Dienstag, 28. Dezember 2010

Was man zur Krise lesen sollte

Hat sich die Oekonomie seit der Finanzmarktkrise bewegt? Eine gute Frage, und Versuche guter Antworten. Eine Übersicht von Claude Longchamp.

Die Pleite von Lehman Brothers löste eine global beispielslose Finanzmarktkrise aus, die wiederum die Weltwirtschaft durcheinander wirbelte und die Politik der USA und der EU erschütterte. All das hat namentlich die viel gescholtenen Oekonomen aufgerüttelt, über ihr Wissen und dessen Grundlagen nachzudenken. Die NZZ am Sonntag listete einige der Werke auf, die zu lesen sich lohnt. Gerne gebe ich die weiter, von denen ich das auch sagen kann:

Andrew Ross Sorkin: Die Unfehlbaren, Spiegel-Verlag 2010
Die typische Spiegel-Reportage mit 200 Beteiligten, im Genre eines Krimis verfasst

Nouriel Roubini, Stephan Mihm: Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft. Campus-Verlag, Frankfurt 2010
Dr. Doom der Finanzmarktkrise, weil er sie der Bedeutung der Schrottpapiere für das Schrottsystem vorhersah

Paul Krugman: Die neue Weltwirtschaftskrise, Campus-Verlag, Frankfurt 2009
Einflussreicher Wirtschaftsberater und Kritiker des Schattenbanksystems das neu reguliert werden sollte

Joseph Stiglitz: Im freien Fall. Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft, Siedler, München 2010
US-Nobelpreisträger und Gegner freier Märkte, die ohne staatliche Rahmenbedingungen nicht funktionieren

George A. Akerlof. Robert J. Shiller: Wie Wirtschaft wirklich funktioniert, Campus, Frankfurt 2009
Rational-choice-Analyse missinterpretieren das reale Wirtschaftsverhalten, das viel instinktiver ist und Impulsen folgt

Carmen Reinhard, Kenneth Rogoff: Dieses Mal ist alles anders. Acht Jahrhunderte Finanzkrisen. Finanzbuchverlag 2010 - 800 Jahre Finanzkrisen zwischen zwei Buchdeckeln analysiert, um den regelmässigen Zusammenhang von Verschuldung und Krise auszuloten

Niall Ferguson: Der Aufstieg des Geldes. Die harte Währung der Geschichte. Econ-Verlag, Berlin 2009
Reagierte 2008 sofort, unverbesserlicher Optimist, gemäss dem wir trotz kleinen Ausschläge in der besten aller Wirtschaftszeiten leben; lässt sich auch als Gegenprogramm lesen

Ein Buch, das mit als Ganzes gut gefallen hat, findet sich nicht auf der Liste der Sonntagszeitung. Es ist das schmale, aber gehaltvolle Bändchen von Roger de Weck mit seinen Schlussfolgerungen für ein sinnvolles Handeln in Zukunft.

Roger de Weck: Nach der Krise? Gibt es einen anderen Kapitalismus? Nagel&Kimche, 2010

Wer also noch einige Tage frei hat, kann sie auch nutzen, um sich in einer relevanten Frage weiter zu bilden.

Quelle: Claude Longchamp / Zoon Politicon

Dienstag, 9. November 2010

Reichtum und Zerfall

Die Superreichen sind anders, schreibt Tages-Anzeier-Kolumnist Philipp Löpfe in einer Betrachtung vor dem Abstimmungssonntag zur SP-Reichtumssteuer.

Bei der Steuerinitiative, die bald vors Volk gelangt, geht es nicht nur um Geld. Es geht auch um den Einfluss einer Geld-Oligarchie auf die Gesellschaft. «Die Reichen sind anders als du und ich», sagt die Romanfigur Nick Carraway in Scott Fitzgeralds «Great Gatsby». Das veranlasste Ernst Hemingway zur sarkastischen Replik: «Ja, sie haben mehr Geld.» Der Dialog der beiden amerikanischen Schriftsteller hat so nie stattgefunden. Trotzdem wurde er weltberühmt, denn er trifft ins Schwarze. Die Frage «Sind Superreiche ein Fluch oder ein Segen für eine Nation?» treibt derzeit wieder einmal die Schweiz um.

Die Einkommensverteilung eines Landes lässt sich mit einer komplizierten Formel messen. Sie heisst «Gini-Koeffizient», benannt nach ihrem gleichnamigen Erfinder, einem italienischen Ökonomen. Ein Gini-Koeffizient von 0 steht dabei für vollkommene Gleichverteilung, ein Koeffizient von 1 ist würde der maximalen Ungleichheit entsprechen. In der Schweiz steigt der Gini-Koeffizient an, wie auch in den meisten modernen Gesellschaften. Schuld daran ist die Globalisierung. Sie hat zu einer «Gewinner-kriegen-alles»-Wirtschaft geführt.

Das «Gewinner-kriegen-alles»-Prinzip lässt sich in seiner reinsten Form im Sport- oder Showbusiness beobachten. Die Stars sind heute Weltstars. Eine Lady Gaga oder ein Roger Federer kennt man von Kasachstan bis in die Karibik. Dementsprechend hoch ist ihr Einkommen. Von Roger Federer konnte man soeben erfahren, dass er dieses Jahr allein mit seinen Werbeverträgen rund 40 Millionen Franken verdienen wird. In Sport- und Showbusiness ist das «Gewinner-kriegen-alles»-Prinzip besonders ausgeprägt. Es beginnt sich aber auch in allen anderen Branchen durchzusetzen. Manager verdienen ein Hundertfaches des Durchschnittslohnes, Banker erhalten Boni in astronomischen Höhen, etc. Das Resultat ist eine neue globale Geld-Oligarchie.

Als Steuerzahler sind diese Superreichen sehr begehrt. Rein wirtschaftlich betrachtet ist das auch logisch: Selbst wenn die Superreichen prozentual immer weniger von ihrem Einkommen und Vermögen an den Fiskus abliefern müssen, fällt dabei immer mehr ab. So gesehen scheint auch der Steuerwettbewerb unter den Schweizer Kantonen logisch zu sein. Wem es gelingt, Superreiche anzulocken, der ist seine Sorgen los. Schliesslich zahlen diese Superreichen in Franken und Rappen gemessen überdurchschnittlich viel mehr als wir Mittelständler. Linke und Gutmenschen mögen sich an der Gerechtigkeitsfrage stören. Doch wen kümmert das? Wir sind Realisten. Wer rechnet, der sagt mit der «Weltwoche»: «Reiche und Superreiche – herzlich willkommen».

Dummerweise sind die Reichen aber wirklich anders. Das kann man etwa an der Stellung der Bankiers in der Gesellschaft verfolgen. Hans Bär beispielsweise ist bis heute der Inbegriff eines Zürcher Gentleman-Bankers. Sein Vater war ETH-Professor, seine Mutter Naturwissenschaftlerin. Die gleichnamige Privatbank leitete sein Onkel. Bär beschreibt in seiner Biografie, wie unbedeutend die Einkommensunterschiede im gehobenen Bürgertum zu dieser Zeit waren. Es gab so etwas wie eine Gemeinschaft. Im Hause Bär verkehrten Professoren, Banker, Künstler und Politiker auf Augenhöhe. Man kannte sich aus Partei, Sport- oder Kunstvereinen, etc. Schon damals gab es Einkommensunterschiede, aber diese spielten erstens keine Rolle und wurden zweitens vertuscht. Die Bärs hatten beispielsweise zwei identische Autos, damit es nicht auffiel, dass es zwei waren.

Damals verdiente ein Banker möglicherweise doppelt so viel wie ein ETH-Professor, heute kann es auch ein bisschen mehr sein, beispielsweise wenn man Brady Dougan heisst und als Chef der CS im laufenden Jahr über 90 Millionen Franken einstreicht. Die neue Finanz-Oligarchie ist nicht mehr ein Teil des Zürcher Establishments, man kennt sich nicht mehr aus Partei, Sport- oder Kunstverein. Die neuen Superreichen haben sich in eine Parallelwelt abgemeldet. An den Ufern des Zürichsees und rund um Zug entstehen Reichen-Ghettos, aus denen die Einheimischen allmählich vertrieben werden. In Wollerau spricht man von einen «Russen-Hügel», einem noblen Quartier, wo die Läden meist herabgelassen sind, weil niemand zuhause ist. In Zug verlassen bekanntlich mehr Schweizer den Kanton als zuwandern.

Superreiche hat es im Lauf der Geschichte immer wieder gegeben. Arnold Toynbee, einer der bedeutendsten Historiker des letzten Jahrhunderts, hat sein Leben lang untersucht, warum Zivilisationen zerfallen. Dabei hat er Aufstieg und Zerfall von 21 Hochkulturen studiert. Toynbee konnte dabei kaum Gemeinsamkeiten feststellen. Ein Merkmal sticht jedoch bei allen untergehenden Hochkulturen hervor: Sie alle hatten eine extreme Konzentration von Reichtum.

Quelle: Tagesanzeiger.ch/Newsnetz

Samstag, 30. Oktober 2010

Neue Ökonomie der Natur

Mit diesem Erfolg hatten nur wenige gerechnet: Der Uno-Gipfel in Nagoya hat ein ehrgeiziges Artenschutzprogramm beschlossen, die Entwicklungsländer gestärkt. Die Naturschützer schaffen so den Sprung aus der Nische - und beanspruchen zu Recht, die Regeln der Wirtschaft umzuschreiben. Ein Kommentar von Spiegel Online.

Der Naturschutzgipfel von Nagoya hat eine Botschaft, die nicht nur Vogelfreunde und Waldwanderer betrifft - sondern vor allem alle anderen Menschen. Gerade wer in einer Großstadt lebt, bekommt von dieser Zusammenkunft der Vereinten Nationen eine Nachricht übermittelt: Unser Leben hängt existentiell von der Vielfalt der Natur ab. Wir werden für das, was wir bisher kostenlos bekommen, künftig zahlen müssen, wenn wir nicht die Grundlage dieses Lebens verlieren wollen.

Wer morgens im Herzen von Berlin, München oder Hamburg in sein Brötchen beißt, ist mit dem Acker verbunden, von dem es kommt. Doch wie lange sind die Böden noch fruchtbar? Wer die Zeitung aufschlägt, tritt mit dem Wald in Verbindung, dem das Papier entstammt. Doch gibt es auch in Zukunft noch ausreichend Wälder? Wer einen Kaffee trinkt, der verschafft sich einen Stimulus aus subtropischen Berggebieten. Was aber passiert mit dem Regenwald um die Plantage herum, ohne den die Kaffeesträucher weniger fruchtbar wären?

Die Liste der Ziele, die auf dem Gipfel in Japan verabschiedet wurden, ist lang und erstaunlich: Bis 2020 soll die Überfischung gestoppt, die Landwirtschaft nachhaltig und das Aussterben von Arten gestoppt sein. Sind das naive Wünsche von Tagträumern? Angesichts des Versäumnisses, die für 2010 gesteckten Uno-Ziele zu erreichen, mag man sich fragen, wie aussagekräftig solche Verlautbarungen überhaupt sind. Doch das kann nur bedeuten, die Rolle der Uno-Umweltschützer in der Weltpolitik zu stärken und das Umweltprogramm der Vereinten Nationen in den Rang einer echten Uno-Organisation zu erheben. Beim Welthandel mit der WTO ist das längst der Fall.

Wir haben uns daran gewöhnt, Äcker erodieren zu lassen, Speiseöle von tropischen Rodungsflächen zu beziehen, Fische aus illegalen Quellen zu essen. Alles soll möglichst billig sein. Zugleich erwarten wir von den ärmeren Menschen in Entwicklungsländern, dass sie nicht so viele Ressourcen verbrauchen wie wir, weil das der Planet nicht verkraften würde. Nun weist der Gipfel von Nagoya einen Weg, wie es anders laufen kann. Bei Uno-Gipfeln ist grundsätzlich Skepsis angebracht, wie viel sie von dem einlösen, was Satz für Satz erkämpft wurde, sobald die Unterhändler in ihre Flugzeuge nach Hause gestiegen sind.

Doch zum Erfolg von Nagoya gehört auch, dass sich dort Manager von vielen etablierten Firmen und Großkonzernen eingefunden haben, die offen sind für jenes neue Denken, das aus den Dokumenten spricht: Regenwälder, Korallenriffe, Ozeane, Savannen und lebenspralle Ackerböden sind demnach künftig die eigentlichen Zentralbanken unserer Wirtschaft. Dass wir ihnen frische Luft, Nahrung, Medikamente, Trinkwasser und vieles mehr entnehmen können, ist längst nicht mehr selbstverständlich.

Die Ökonomie der Natur rückt ins Zentrum. Denn unsere globalen Klimaanlagen, Wasserspender und Speisekammern funktionieren nur dauerhaft, wenn ihre angestammte Vielfalt an Lebewesen gedeihen kann. Und das geht nur, wenn die Menschen, die in ihrer Nähe leben, sich von etwas anderem ernähren können als von Zerstörung und Raubbau. Die ökonomischen Spielregeln von heute machen es lukrativ, den Planeten auszubeuten. Die hehren Ziele, die der Naturschutzgipfel von Nagoya setzt, sind ein Anfang, diese Spielregeln umzuschreiben.

Dazu gehört es vor allem, dass jene Menschen angemessen bezahlt werden müssen, die tragfähig wirtschaften statt nur kurzfristig, die etwa als Bauern in Deutschland Moorböden erhalten oder als Kaffeeunternehmer in Äthiopien dafür sorgen, dass der benachbarte Regenwald erhalten bleibt. Solche Menschen, nicht die ruchlosen Banker, haben Boni verdient. Das Geld der Gesellschaft ist bei ihnen deutlich besser angelegt, denn sie sind wirklich "systemrelevant". Diese Menschen dürften ruhig ein bisschen gieriger sein, denn ihre Arbeit trägt für alle Früchte, was sich von der Lehman-Bank oder Hypo Real Estate nicht sagen lässt.

Ohne Naturvielfalt ist alles nichts, lautet die Botschaft von Nagoya. Wirtschaftswachstum, das Naturvielfalt zerstört, mindert den Wohlstand, statt ihn zu mehren. Keiner hat das bei der Debatte der Staatschefs und Minister besser auf den Punkt gebracht als Andreas Carlgren, der konservative Umweltminister von Schweden: "Biodiversität ist die Grundlage unserer Wirtschaft und sie kann nicht länger isoliert vom Rest der Ökonomie gesehen werden", sagte er, "Ökonomie und Ökologie sind zwei Seiten derselben Medaille."

Aber soll uns schon wieder mehr Geld aus der Tasche gezogen werden? Das fragt mancher, wenn er hört, dass größere Summen von Nord nach Süd fließen sollen, um Wälder und Korallenriffe zu schützen. Doch die Frage führt in die falsche Richtung. Allein in Deutschland gibt es jährlich Subventionen im Umfang von knapp 50 Milliarden Euro, die direkt der Umwelt schaden, vom verbilligten Agrardiesel bis zur Pendlerpauschale. Der Beschluss von Nagoya, solche Subventionen bis 2020 abzuschaffen, verspricht also primär eine enorme Entlastung der Steuerbürger.

Dagegen kommen die deutlich geringeren Summen, die in den Naturschutz fließen sollen, dem tieferen Wohlstand zugute: gesündere Lebensmittel, der Erhalt von genetischen Schatzkammern und stabile Umweltbedingungen sind Ziele, die unmittelbaren Nutzen entfalten und zukunftstaugliche Arbeitsplätze schaffen. Dass westliche Firmen künftig auch dafür bezahlen sollen, wenn sie die Naturschätze von Entwicklungsländern für ihre Produkte nutzen, ist nur folgerichtig. Bisher ist es für Tropenländer am lukrativsten, ihre Wälder zu verhökern, sie für Holz zu roden und für Agrarflächen zu opfern, auf denen das Futter für europäische Rinder wächst. Zu lange galten die verbleibenden Regenwälder als kostenlose Quelle von Medikamenten oder Kosmetika. Durch den Nagoya-Gipfel bekommen die letzten Wildnisgebiete nun einen ökonomischen Wert zugewiesen, der es attraktiver macht, sie zu erhalten. Wenn Entwicklungsländer an noch unbekannten Naturstoffen langfristig mitverdienen, werden sie es sich vielleicht zweimal überlegen, den Wald für eine Einmalzahlung abzuholzen.

Solche Zahlungen dienen also nicht der Zerstörung, sondern der dauerhaften Nutzung von Naturschätzen. Die Erwartungen in Brasilien oder Indonesien, wie viel Geld sich auf diesem Weg verdienen lässt, mögen überzogen sein. Außerdem wird es mit Sicherheit bald die ersten Nachrichten geben, dass hier und da Schindluder mit solchen Zahlungen getrieben wird. Richtig bleibt das Prinzip allemal. Wem solche Transfers zu teuer erscheinen, der sollte sich folgendes überlegen: Was würden wir sagen, wenn Chinesen oder Brasilianer durch den Harz oder den Bayerischen Wald streiften, um Pflanzen einzusammeln, mit denen sie später viel Geld verdienen? Sicher würden auch wir einen gerechten Anteil an den Einnahmen reklamieren.

Das Ziel, bis 2020 rund 17 Prozent der Landfläche unter Naturschutz zu stellen, bedeutet auch, dass der Mensch 83 Prozent für seine Zwecke beansprucht. Die 17 Prozent sind das globale Erholungsgebiet, ein Entwicklungsraum für die angestammte Natur des Planeten, die uns hervorgebracht hat. Ebenso entscheidend ist aber, was auf den 83 Prozent Menschen-Welt passiert. Ob es sich dort lohnt, langfristig schonend zu wirtschaften oder kurzfristig Raubbau zu begehen, ist die noch tiefere Frage für die Zukunft der Zivilisation.

Der Gipfel von Nagoya hat nicht nur eine zweite Blamage der Vereinten Nationen nach dem Desaster von Kopenhagen vermieden, sondern die Menschheit mit einer erstaunlichen Neuerung konfrontiert: Der Naturschutz bricht aus dem engen Karree der Reservate und des reinen Froschzählens aus. Er sucht den Weg ins Herz der globalen Ökonomie und will ihr neue Prinzipien verordnen. Das ist angesichts der Wucht, mit der wir Menschen die Erde verändern, überfällig - nicht zuletzt, damit es 2050 oder 2100 überhaupt noch Frösche zu zählen gibt und ihre Feuchtgebiete uns mit frischem Wasser versorgen können.

Quelle: Christian Schwägerl, Nagoya, Spiegel Online

Montag, 11. Oktober 2010

USA mit kurzem Gedächtnis

Haben die USA aus der Finanzkrise gelernt? Das Gegenteil ist wahr, sagt Filmemacher Charles Ferguson. Seine brillante Dokumentation "Inside Job" zeigt, wie Wall Street und Regierung schon wieder gemeinsame Sache machen. Das Fatale: Niemand protestiert dagegen, wie Spiegel Online berichtet.

Es ist eine fast intime Soiree. Gerade mal neun Zuschauer verlieren sich im Saal des Angelika Film Centers, eines Programmkinos im New Yorker Greenwich Village. Dabei ist der Film, der hier seine Publikumspremiere hat, wichtig, erschütternd und zutiefst empörend. Jeder Amerikaner, der wirklich wissen will, wer die Finanzkrise verschuldet hat (und zweifellos die nächste verschulden wird), sollte ihn sehen.

In "Inside Job", seiner brillant-beklemmenden Dokumentation über den globalen Crash, weist Charles Ferguson genau das Gegenteil nach: Diese Geschichte ist längst nicht zu Ende - und hat sogar bereits begonnen, sich zu wiederholen. Was soll's, sagt Scott Talbott, ein Top-Lobbyist der Bankenbranche, auf Nachfragen von Ferguson mit nonchalantem Schulterzucken: "Jeder macht mal Fehler."

Von wegen Fehler. "Diese Krise war kein Unfall", sagt Ferguson. Sondern ein weltweiter, wortwörtlicher Bankraub, der Billionenverluste verursachte und Abermillionen Menschen die Existenz kostete, von Chicago bis China - für den aber, wie "Inside Job" in kühler Wut erinnert, bis heute kein einziger Schuldiger strafrechtlich belangt wurde. Statt dessen ziehen die gleichen Leute wieder die Strippen, an der Wall Street wie in Washington, und kassieren neue Bonusprämien ab.

Man könnte meinen, es gäbe zu dem Thema nichts mehr zu sagen. Doch keiner fängt die Chuzpe der Täter so eiskalt ein, demaskiert die Verantwortlichen so höflich, leuchtet die moralischen Abgründe so grell aus wie Ferguson, ein Politologe mit Reportertalent. Anders als der Polemiker Michael Moore ("Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte"), der seine Thesen zurechtschneidet, oder Hollywood-Nörgler Oliver Stone ("Wall Street: Geld schläft nicht"), der sich in stilisierter Dramaturgie verliert, wahrt Ferguson den Blick fürs Wesentliche.

Seine 108-minütige Tour de Force durch das Labyrinth aus Deregulierung und Derivativen, Ratings und Ramschhypotheken, CDO und CDS führt einem die zynische Manipulation des Systems besser vor Augen als alle bisherigen Traktate. Eine ernüchternde Lehre, die gerade jetzt nötig scheint, da viele Amerikaner die wahren Hintergründe der Krise schon wieder verdrängt haben - und, so warnt Ferguson, fröhlich in den nächste Wahn schlittern.

In der Tat machen in Umfragen immer mehr US-Bürger ihren Präsidenten Barack Obama für die Rezession verantwortlich - obwohl der zu Beginn der Finanzkrise noch überhaupt nicht im Amt war. Den Republikanern dagegen, die viel Geld von der Wall Street erhalten und die an der fatalen Deregulierungspolitik festhalten, messen die Wähler in Finanzfragen neuerdings größere Kompetenz zu als den Demokraten. Bei den Kongresswahlen in drei Wochen könnten die Republikaner die Macht im Kongress zurückerobern.

Amerikas hat ein kurzes Gedächtnis. So lief Fergusons aufwendig produziertes, von Matt Damon erzähltes Lehrstück am Wochenende denn zunächst auch nur in zwei New Yorker Programmkinos an, denen schrittweise weitere, kleine Häuser folgen sollen. Gleichzeitig sind die Megaplexes von eskapistischer Massenware belegt, darunter einer auffallenden Anzahl von Horrorfilmen für das bevorstehende Halloweenfest.

Dabei ist "Inside Job" der ultimative Horrorfilm, voller gruseliger Schurken und tragischer Helden. Wie "Freitag der 13." beginnt auch diese Höllenfahrt in trügerischer Idylle - in diesem Fall in Island, dessen Finanzsystem Ende 2008 spektakulär kollabierte. Gier, Dummheit, Bankenzockerei: Die Ursachen klingen haarsträubend provinziell und so weit weg - bis der Zuschauer merkt, dass es die gleichen waren, die die USA ins Unheil rissen.

Die Schurken - Banker, Rating-Agenturchefs, Lobbyisten - sahnten ab und belohnten sich selbst mit Villen, Yachten, Privatjets, Strippern, Nutten und Koks, ohne je echte Konsequenzen fürchten zu müssen. Exzesse, die sich Ferguson anschaulich vom Wall-Street-Psychologen Jonathan Alpert und der VIP-Puffmutter Kristin Davis schildern lässt und mit dem Oldie "Takin' Care of Business" untermalt.

Politiker, Ökonomen und der langjährige Fed-Chef Alan Greenspan gaben dem abgekarteten Spiel Flankenschutz. Der Einzige, der die Halunken zur Rechenschaft zog, war der New Yorker Generalstaatsanwalt und kurzzeitige Gouverneur Eliot Spitzer. Als der selbst über einen Hurenskandal stürzte, knallten an der Wall Street - deren Sittenlosigkeit ungesühnt blieb - die Sektkorken, derweil Ms. Davis heute als Bannerträgerin der Anti-Prohibitionspartei für das Amt des Gouverneurs kandidiert.

Aus der Distanz sind die Mechanismen so vorhersehbar, dass es unfassbar ist, wie niemand etwas gemerkt haben will. Fast niemand: Ferguson lässt vor allem auch die wenigen Propheten zu Wort kommen, die das Chaos kommen sahen, doch verlacht wurden, Jahr für Jahr. 2005 warnte Raghuram Rajan, damals Chefökonom des Internationalen Währungsfonds (IWF), vor einem "globalen Meltdown". 2006 orakelte Wirtschaftsprofessor Nouriel Roubini: "Die Blase platzt." Und 2007 kritisierte der Finanzjournalist Allan Sloan die Tricks der Banken als "absolut wahnsinnig".

Doch selbst die "New York Times" tat Roubini als "Dr. Doom" ab, und Larry Summers, seinerzeit Präsident der Harvard University, verhöhnte Rajan als "Technikfeind". Kein Wunder: Als US-Finanzminister unter dem Demokraten Bill Clinton forcierte Summers die Deregulierung der Wall Street. Später wurde er durch lukrative Consulting-Jobs für selbige Branche, die er schützte, zum Multimillionär.

Summers Name taucht immer wieder auf in "Inside Job": Unter seiner Obhut hob die US-Regierung 1999 die Trennung zwischen Investment- und Geschäftsbanken auf, was deren Konsolidierung zu Molochen à la Citigroup erst ermöglichte. Er schaltete Brooksley Born aus, die als Chefin der Aufsichtsbehörde CFTC schon früh auf die Gefahr von Derivativen hinwies. Er steuerte den Commodity Futures Modernization Act, der 2000 jenen Finanzspekulationen freie Bahn gab, die acht Jahre später das ganze Kartenhaus zum Einsturz bringen würden.

Summers personifiziert, wie Ferguson aufzeigt, die Drehtür zwischen akademischer Welt, Wall Street und Politik, die auch nach der Krise weiter schnurrt. Obama, der im Wahlkampf noch eine "neue Kultur an der Wall Street" gefordert hatte, berief Summers 2009 zum Chef-Wirtschaftsberater - ausgerechnet diesen Mann, der einer der frühen Mitverursacher der Krise war. Ende des Jahres will Summers nun nach Harvard zurückkehren, um die nächste Generation von Wirtschaftsgurus auszubilden. Ferguson seufzt: "Nichts hat sich geändert."

Eine deprimierende Erkennntis. Die Lumpen kamen ungestraft davon, sackten sogar noch neunstellige "Abfindungen" ein. Allein Stan O'Neal, der als Vorstandsvorsitzender Merrill Lynch verheizte, kassierte 162 Millionen Dollar. Anschließend wechselte er ins Board des größten US-Aluminiumkonzerns Alcoa, dessen damaliger Vorstandschef die "strategische Vision" des Opportunisten lobte.

Andere sitzen ungestört auf ihrem Thron. Etwa Glenn Hubbard, der Wirtschaftsdekan der Columbia University, der George W. Bushs Steuergeschenke für die Millionärsklasse mitformulierte, nun die Obama-Regierung "berät" und sich von der Wall Street sponsern lässt. Ob das kein Interessenkonflikt sei, fragt Ferguson. Hubbard reagiert beleidigt ("Das bezweifle ich") und bricht das Interview ab.

Und so spekuliert sich eine konsolidierte Wall Street der nächsten Blase entgegen. Kein Krisenprotagonist wurde verurteilt, Obamas Finanzreform ist dank eines Lobbyistenheers auf Minimalmaß geschrumpft, Goldman Sachs kassiert mehr denn je, JP Morgan Chase ist die neue Citigroup.

Unterdessen hat die Armutsquote in den USA historische Rekorde erreicht. Die US-Wirtschaft verlor im September 95.000 Arbeitsplätze. Die Einkommensschere klafft so weit auseinander wie nie zuvor, Schul- und Fortbildung ist für immer mehr Amerikaner unerschwinglich.

"Eine Wall-Street-Regierung", urteilt Ferguson denn auch über Obamas Team. Interviewanfragen verweigerten sämtliche Berater des Präsidenten. Ebenso wie Notenbankchef Ben Bernanke. Der hat seit 2006 tatenlos mitangesehen, wie die Wirtschaft ungebremst in die Krise stürzte. Geschadet hat es ihm nicht: Seine Amtszeit ist gerade erst verlängert worden.

Quelle: Spiegel Online

Sonntag, 10. Oktober 2010

Bitte kein BIP

Die Wirtschaft boomt wieder - aber was heißt das eigentlich? Der wichtigste Indikator für Wohlstand ist nach traditioneller Lehre das Bruttoinlandsprodukt. Doch die Messzahl steht massiv in der Kritik, Ökonomen fordern ein radikal neues Wachstumskonzept. Eine Analyse von Spiegel Online.

Berlin - Wenn Christian Berg vom Club of Rome über wirtschaftliches Wachstum spricht, illustriert er das gern mit diesem Beispiel: Europäische Fangflotten fischen mit riesigen Netzen die Fischbestände vor Afrikas Küsten leer - ein hocheffizientes und profitables Geschäft. Im Ergebnis steigert der Dosenthunfisch aus dem Mittelmeer das Bruttoinlandsprodukt in der EU. Die Frage ist nur: zu welchem Preis?

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) gilt seit Jahrzehnten als der wichtigste Gradmesser für wirtschaftliche Leistung und Wohlstand. Es misst den Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die innerhalb einer bestimmten Periode in einer Volkswirtschaft hergestellt werden. Zweimal jährlich legt das Statistische Bundesamt Zahlen vor, Wirtschaftsinstitute überbieten sich ständig mit ihren Prognosen - und immer ist das BIP die wichtigste Grundlage.

Doch das Konzept des BIP gerät immer stärker in die Kritik. Messen Ökonomen weltweit gar eine völlig irrelevante Zahl? Tatsächlich sind die Statistiken zum BIP unzureichend, wie nicht nur das Fischerei-Beispiel zeigt:

* So steigert eine Krankenschwester das BIP, wenn sie Alte in der Geriatrie versorgt. Eine Tochter, die ihre Eltern pflegt, wird dagegen nicht erfasst.
* Die teure Beseitigung von Umweltschäden geht genauso in die Statistik ein wie der Bau von Niedrigenergiehäusern. Vereinfachend könnte man sagen: Je mehr Umweltschäden beseitigt werden müssen, desto höher ist das BIP.
* Abstrakte Größen wie Lebenszufriedenheit oder Gesundheit der Bevölkerung werden dagegen überhaupt nicht erfasst. Dabei sollte das Ziel jeder Gesellschaft ja gerade sein, das Wohlbefinden möglichst vieler Menschen so weit wie möglich zu erhöhen.

Unter Ökonomen wachsen deshalb die Zweifel: Ist die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung noch ausreichend, um den Wohlstand einer Nation zu beschreiben? Und welche Alternativen zum BIP bräuchte eine moderne Wirtschaftspolitik in hoch entwickelten Industriegesellschaften?

"Wir brauchen neue Messgrößen"

Um diese Fragen zu diskutieren, trafen sich in dieser Woche hochrangige Ökonomen und Wirtschaftsvertreter zu einem Kongress in Berlin. Ihr Fazit: Auf das BIP als Wachstumsindikator sollte man zwar nicht verzichten. "Aber das BIP ist nur die eine Seite", sagt der Münsteraner Ökonom Ulrich van Suntum. Es sei nie ein genereller Wohlstandsindikator gewesen - werde aber fälschlicherweise häufig als solcher verstanden. "Um Wohlstand sinnvoll zu bemessen, brauchen wir neben dem BIP noch andere, neue Messgrößen."

Das ginge zum Beispiel mit Sozialindikatoren, die objektiv messbar sind. Dazu gehört der Human Development Index, den die OECD seit 1990 erhebt. Neben dem BIP berücksichtigt er auch die Lebenserwartung bei Geburt, die Alphabetisierungs- und die Einschulungsrate. Wenn man diese Größen mit einbezieht, kommt man zu überraschenden Ergebnissen. So ist China gemessen am BIP zwar die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt nach den USA, im "Human Development Index" erreicht das Land aber nur Platz 92.

Eine andere Möglichkeit, wirtschaftlichen Wohlstand zu messen, wären subjektive Indikatoren. Diese lassen sich statistisch erheben, indem die Befragten ihre Lebenssituation selbst bewerten. Allerdings sehen das viele Experten skeptisch: Denn wie gewichtet man die Antworten, wenn man Bürger nach ihren Werten und Vorstellungen fragt? "Es gibt Grenzen in der subjektiven Erhebung, welche die amtliche Statistik nicht überschreiten kann", sagt denn auch Albert Braakmann vom Statistischen Bundesamt. Da hat man es beim BIP einfacher. Die Kennzahl ist international normiert, so dass man ganze Volkswirtschaften vergleichen kann. Bei Fragen zur Lebensqualität ist das weit schwieriger: Deutsche leben nun mal nicht so gerne neben einem Atomkraftwerk, Franzosen haben damit weniger Probleme.

"Unser Wachstum ist nicht nachhaltig"

Neu ist die Diskussion indes nicht. Seit der "Club of Rome" im Jahr 1972 seine Studie "Die Grenzen des Wachstums" veröffentlichte, warnen Ökonomen immer wieder: Heutiges Wirtschaftswachstum, das erkauft wird mit dem Verbrennen von Öl, der Ausbeutung unwiederbringlicher Ressourcen oder massiven Umweltschäden, geht zu Lasten der Zukunft. Daran hat sich auch im Jahr 2010 nichts geändert. "Unser heutiges Wachstum ist nicht nachhaltig", sagt Christian Berg.

Im Februar 2008 war es ausgerechnet der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy, der die Diskussion erneut belebte. Er äußerte seine "Unzufriedenheit mit der Statistik" und berief eine Arbeitsgruppe ein mit dem Ziel, die Messung wirtschaftlicher Leistung und gesellschaftlichen Forschritts von Grund auf zu überdenken. Chefs dieser Kommission waren die beiden Nobelpreisträger Joseph Stiglitz und Amartya Sen.

Eineinhalb Jahre später sorgten die Ökonomen mit ihrem fast 300 Seiten starken Bericht für Furore. Die radikale Forderung: Schnellstens sollte die Politik dafür Sorge tragen, das produktionsorientierte Messsystem zu ersetzen durch ein neues, dessen Mittelpunkt das Wohlbefinden aktueller und kommender Generationen ist.

Genau daran arbeiten gerade Deutschland und Frankreich. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und sein französisches Pendant, der Conseil d'analyse économique (CAE) sollen den Regierungen beider Länder im Dezember einen entsprechenden Bericht vorlegen. Das Ziel: Ein neuer Indikator, der das Wirtschaftswachstum auf einer weiter gefassten Grundlage misst als das BIP.

Quelle: Spiegel Online

Montag, 20. September 2010

Ein Grundeinkommen muss her

Der deutsche Drogerie-Unternehmer und Milliardär Götz Werner über das Recht auf Arbeit, ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle und seine Bewunderung für Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler

Ausschnitt aus Interview von Philipp Löpfe in SonntagsZeitung vom 19.9.2010

Konstanz am Bodensee in Deutschland: Auf einer kleinen Insel neben dem Hafen steht das 4-Sterne-Hotel Steigenberger. In der Bar hat Götz Werner einen Tisch für das Interview reserviert. Er erscheint pünktlich, lässig gekleidet und in bester Laune.

In der Hand hält er ein Exemplar seines soeben erschienenen Buches «1000 Euro für jeden». Darin macht sich Werner dafür stark, dass jeder, egal ob Frau oder Mann, Rentner oder Kind, vom Staat ein bedingungsloses Grundeinkommen erhält, das ihm ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Ohne zu arbeiten.

Ist der Mann übergeschnappt? Für die Schweiz würde das beispielsweise bedeuten, dass sich die Sozialausgaben mehr als verdoppeln würden. Das zeigt eine einfache Rechnung: 7,8 Millionen Einwohner mal 3000 Franken Grundeinkommen pro Monat ergibt Kosten von rund 280 Milliarden Franken. Derzeit liegen die gesamten Sozialausgaben bei rund 120 Milliarden Franken.

Sicher ist: Götz Werner kann rechnen. Er ist Milliardär und einer der erfolgreichsten Unternehmer Deutschlands. Als Vater von sieben Kindern steht er mit beiden Beinen im Leben. Gern weist er darauf hin, dass einer der Väter der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens der neoliberale Ökonom Milton Friedman war. Für die Finanzierung des Modells schlägt Werner eine massive Erhöhung der Mehrwertsteuer vor.

Götz Werner, das bedingungslose Grundeinkommen gilt zwar als sympathische, aber auch sehr naive Idee. Jetzt wollen Sie es ausgerechnet in der schwersten Wirtschaftskrise seit den 1930er-Jahren einführen. Warum?

Die Produktion läuft, die Kunden sind da. Wir haben gar keine Wirtschaftskrise, wir haben eine Finanzkrise, die leider stimmungsmässig als Wirtschaftskrise empfunden wird.

Wo liegt da der Unterschied?

Die Finanzmärkte haben eine Eigendynamik entwickelt und sich von der realen Wirtschaft abgekoppelt. Da liegt das Problem. Wir müssen die Finanzmärkte wieder an die Kette legen.

Ob Finanz- oder Wirtschaftskrise, die Losung lautet: sparen, sparen, sparen.

Die Finanzkrise wirkt wie eine Blendgranate, die die Menschen verwirrt. Sie verstellt den Blick auf die wahren Probleme, die wir haben. Das gilt es aufzuklären.

Wovon genau lenkt diese Blendgranate ab?

Dass die Wirtschaft die Aufgabe hat, den Menschen mit Gütern und Dienstleistungen zu versorgen.

Das bestreitet niemand.

Aber nicht alle realisieren, dass wir heute in einer Konsumgesellschaft leben. Das bedeutet, dass wir keine Selbstversorger mehr sind, sondern darauf angewiesen, dass andere für uns produzieren. Deshalb brauchen wir ein sicheres Einkommen, damit wir die Leistungen der anderen auch kaufen können. Und daher ist das Einkommen die Voraussetzung, um in dieser Konsumgesellschaft leben zu können.

Der gesunde Menschenverstand sagt: Dieses Einkommen muss man sich erarbeiten. Was ist daran falsch?

Es entspricht nicht mehr der Realität. In Deutschland besteht das Einkommen von rund 60 Prozent der Menschen aus Transferleistungen.

Heisst das: Wir haben schon eine Art Grundeinkommen, wir wissen es nur nicht?

Ja, die Schweizer AHV beispielsweise ist ein Grundeinkommen, allerdings ein bedingtes. Sie beruht auf der Idee, dass wir alte Menschen nicht einfach verhungern lassen können. Das, denke ich, ist eine in der Gesellschaft allgemein akzeptierte Vorstellung.

Ihr bedingungsloses Grundeinkommen ist somit nur die konsequente Weiterführung eines bewährten Modells?

So kann man es sehen. Es ist die konsequente Weiterführung von dem, was mit dem Sozialstaat begonnen hat. Den hat der damalige deutsche Kanzler Otto von Bismarck schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt. Nur lebten damals noch 60 Prozent der Menschen von der Landwirtschaft. Heute ist das völlig anders. Wir sind total davon abhängig geworden, dass andere uns versorgen. Die Gesellschaft hat einen - wie man es wissenschaftlich ausdrückt - Paradigmenwechsel vollzogen.

Konkret?

Nehmen wir das Interview, das Sie jetzt führen. Es setzt voraus, dass Sie ein Einkommen haben.

Was würde sich an diesem Interview ändern, wenn ich ein bedingungsloses Grund- einkommen hätte?

Das würde Sie in die Lage versetzen zu sagen: Will ich dieses Interview überhaupt führen? Ist es überhaupt sinnvoll, mich mit diesem Idealisten Götz Werner zu unterhalten? Und dann noch über ein Thema, das ich für völlig unproduktiv halte. Ohne Grundeinkommen hingegen sagen Sie sich: Dann mach ich halt dieses Interview, ich brauche das Geld. Mit anderen Worten: Ein bedingungsloses Grundeinkommen macht die Menschen frei.

Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde mir auch ermöglichen, überhaupt nicht zu arbeiten.

Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen Menschen angetroffen, der den ganzen Tag nichts anderes tun will als herumzusitzen. Der Mensch ist ja ein initiatives Wesen. Er will etwas und ist getrieben von Ehrgeiz: schneller, höher, immer was Neues. Mit dem Grundeinkommen können wir ganz einfach das tun, was wir wirklich wollen. Deshalb bezeichne ich es manchmal auch als den Punkt, mit dem man die Welt aus den Angeln heben kann: Wir bewegen uns vom Sollen zum Wollen.

Sind Sie nicht ein hoffnungsloser Idealist, der die Realitäten vollkommen verkennt? Der Mensch ist doch faul und muss zur Arbeit gezwungen werden.

Mit dieser Einstellung könnten Sie nie ein Unternehmer sein.

Warum nicht?

Wenn Sie mit anderen Menschen zusammenarbeiten wollen, dann müssen Sie ihnen auch etwas zutrauen. Wenn Sie wie ich rund 35 000 Menschen beschäftigen, dann kann ich denen doch nicht unterstellen, dass sie in Wirklichkeit faul sind. Wer dies tut, beobachtet die Welt nicht. Ohne Vertrauen funktioniert ein Unternehmen nicht. Auch Sie haben darauf vertraut, dass ich pünktlich zum Interview erscheine.

Werden Sie nie von Menschen enttäuscht?

Doch, natürlich, immer wieder sogar. Damit muss man leben können. Aber es ändert nichts an der Maxime: Zutrauen veredelt den Menschen.

Setzen Sie diese hehren Ideale auch in Ihrer Firma um?

Natürlich, es geht doch nur, wenn man den Menschen auch etwas zutraut.

Sie geben Ihren Mitarbeitern also grosse Selbstständigkeit und viele Freiheiten.

Ja, und je glaubwürdiger ich es tue, desto besser sind die Resultate. Wenn die Menschen nur das machen, was man ihnen befiehlt, dann nützen sie die Gelegenheiten, die sich ihnen vor Ort bieten, gar nicht aus. Nur wenn man den Menschen Freiheitsräume gewährt, werden sie kreativ.

Haben Ihre Mitarbeiter bereits ein bedingungsloses Grundeinkommen?

Als einzelner Unternehmer kann ich das gar nicht verwirklichen, das geht nur volkswirtschaftlich. Aber jeder Mitarbeiter hat ein festes, sicheres Einkommen. Bei uns gibt es keine Prämien. Wir halten uns an die Tarifverträge der Sozialpartner. Unser Bestreben ist es jedoch, dass wir höhere Löhne zahlen können, sofern der Wettbewerb es zulässt.

In welchem Land könnten Sie sich ein bedingungsloses Grundeinkommen vorstellen?

Leider bin ich kein Schweizer Staatsbürger. Ich würde mich sonst sicher sehr intensiv dafür einsetzen, eine Volksinitiative zu starten. Ich glaube, dass gerade für diese Frage das Bewusstsein des Schweizervolkes prädestiniert ist.

Sie sind ein knallhart kalkulierender Unternehmer. Was fasziniert Sie am bedingungslosen Grundeinkommen?

Mein Engagement stammt aus meinen Erfahrungen als Unternehmer. Das hat mich gelehrt, dass ich nicht die Arbeit bezahle. Arbeit ist unbezahlbar.

Wofür bezahlen Sie also Löhne?

Damit die Mitarbeiter bei DM arbeiten können! Es ist die Teilhabe, um teilnehmen zu können.

Wie sind Sie Unternehmer geworden?

Ich bin ein Autodidakt und habe Drogist gelernt, weil das in der Familie lag. Mein Urgrossvater war schon Drogist. Ich habe vor 37 Jahren DM Drogeriemarkt mit einem Laden gegründet und allmählich ausgebaut. Die Lebenserfahrung als Drogist und Unternehmer hat mir die Einsicht vermittelt, dass wir ein Grundeinkommen brauchen. Nicht als Dogma, sondern als Idee, um den Menschen die Augen zu öffnen.

Sie selbst sind damit gut gefahren. Sie gelten als Milliardär und einer der reichsten Männer Deutschlands.

Ich kann mich nicht beklagen.

Haben Sie auch Vorbilder?

Ich bin ein grosser Bewunderer des Migros-Gründers Gottlieb Duttweiler. Er wäre heute sicher auch ein Vertreter eines bedingungslosen Grundeinkommens.

Weshalb?

Jeder gute Händler weiss, dass seine Kunden Geld im Portemonnaie haben müssen, damit sie etwas kaufen können. Man kann es allgemeiner ausdrücken: Jeder, der eine Leistung erbringt, sorgt sich darum, dass man ihm diese Leistung auch abkaufen kann.

Die Gegner des Grundeinkommens haben jedoch Angst, dass keine Leistung mehr generiert wird, wenn das Einkommen gesichert ist.

Das kommt davon, wenn man in falschen Paradigmen denkt. Paradigmen sind nichts anderes als verfestigte Vorurteile.

Aber es ist doch so, dass es in modernen Gesellschaften eine Unterschicht gibt, die - höflich ausgedrückt - nicht unbedingt leistungsorientiert ist.

Faule Menschen gibt es an beiden Enden der Gesellschaft. Es gibt das, was man gemeinhin Jetset nennt, und es gibt Menschen, die sich nicht in die Gesellschaft integrieren können. Die Gesellschaft lebt von ihrer fleissigen Mitte. Das war schon immer so.

Entwerten Sie mit Ihrem Grundeinkommen nicht die Arbeit dieser fleissigen Mitte?

Ganz im Gegenteil. Ich adle diese Arbeit. Nicht nur als Drogist bin ich sehr dafür, dass die Menschen gesund leben und gesund essen. Nur dann können sie nämlich auch ordentliche Arbeit leisten. Beim Grundeinkommen geht es ganz und gar nicht um die Abschaffung der Arbeit.

Sondern?

Dass wir begreifen, dass wir keine Gesellschaft von Selbstversorgern mehr sind. Wir leben von der Leistung anderer, nicht von unserem selbst verdienten Geld.

Wozu arbeiten wir dann?

Für die Wertschätzung. Sie machen dieses Interview für die SonntagsZeitung, weil Sie sich mit dieser Zeitung identifizieren können. Auf Dauer können Sie diese Arbeit nur machen, wenn Sie genügend Menschen finden, die dafür auch Wertschätzung aufbringen und die Zeitung kaufen.

Man könnte einwenden, Journalisten seien privilegiert. Nicht jede Arbeit erhält Wertschätzung.

Jeder Mensch hat seine eigene Sinnkonstellation. Die Frage ist nicht: Was für eine Arbeit verrichtet er? Sondern: Wie weit kann er sie selbst bestimmen? Je weniger er dies kann, desto weniger sinnvoll erscheint sie ihm.

Es gibt doch in jeder Gesellschaft einfach unangenehme Arbeiten, die gemacht werden müssen. Was ist damit?

Die Formulierung ist falsch. Korrekt heisst es: Es gibt Arbeiten, von denen wir wünschen, dass andere sie für uns verrichten. Dafür haben wir verschiedene Möglichkeiten.

Wir machen die Arbeit selbst?

Das ist die dritte Möglichkeit. Die erste: Wir schaffen einen attraktiven Arbeitsplatz. Die zweite: Wir automatisieren diese Arbeit. Andere Möglichkeiten gibt es nicht, glauben Sie mir. Ich denke schon lange über dieses Problem nach.

Angenommen, Sie überzeugen die Menschen von Ihrer Idee. Deutschland und die Schweiz führen ein bedingungsloses Grundeinkommen ein. Kommen dann nicht alle Faulen zu uns, um davon zu profitieren?

Menschen verlassen ihre Heimat in der Regel nicht freiwillig, sondern sie fliehen vor Hunger, Krieg und Naturkatastrophen. Und ich kann ja heute als Deutscher auch nicht einfach in die Schweiz ziehen und Anspruch auf AHV anmelden. Bereits heute muss doch definiert werden: Wer gehört zu uns und wer nicht. Im Übrigen hat es auch keinen Massenansturm auf Deutschland gegeben, als die bismarckschen Sozialgesetze eingeführt wurden.

Zurück zur Krise, in der wir uns befinden: Heute herrscht ein allgemeines Gefühl, dass wir in einer Wendezeit leben.

Als Unternehmer lebe ich immer in einer Wendezeit.

Aber heute haben auch viele normale Menschen dieses Gefühl. Was kann ein bedingungsloses Grundeinkommen da bewirken?

Einstein hat einmal gesagt: Wir können die Probleme nicht mit den Methoden lösen, mit denen sie entstanden sind. Genau in dieser Situation sind wir heute im Sozialen. Wir versuchen die Probleme von heute mit den Methoden von gestern zu lösen. Immer mehr Menschen spüren, dass dies nicht geht.

Woran denken Sie konkret?

Beispielsweise an die Vollbeschäftigung. In der Politik lautet eine beliebte Phrase: Arbeitsplätze sichern. Das ist Unsinn. Arbeit muss man erledigen, nicht sichern. Aus dem falschen Paradigma der Vollbeschäftigung kommt solcher Unsinn wie: Recht auf Arbeit. Gleichzeitig werden ganz andere Tendenzen ganz einfach ausgeblendet, dass wir beispielsweise in Sachen Grundeinkommen schon sehr weit sind.

Sie betonen immer wieder, wie wichtig der Sinn der Arbeit ist. Besteht da nicht die Gefahr, dass alle Menschen nur noch künstlerisch tätig sein wollen und niemand mehr diese Basisarbeit verrichten will?

Was, bitte, verstehen Sie unter Basisarbeit?

Die Arbeit, die etwa Bauern oder Maurer verrichten.

Die Basis unserer Arbeit ist die Kultur. Wenn es uns gelingt, für das, was Sie als Basis bezeichnen, Maschinen zu erfinden, dann wäre das doch wunderbar. Da sind wir ja bereits auf gutem Wege. Von der direkten Arbeit an der Natur haben wir uns weitgehend befreit. Wo wir hingegen einen grossen Mangel haben, ist in der mitmenschlichen Arbeit, in der Pflege, im Schulwesen.

Arbeitslose Künstler gibt es ebenfalls reichlich.

Die sind überhaupt nicht arbeitslos. Die malen Bilder oder führen Theaterstücke auf, aber sie erhalten dafür keine Wertschätzung. Genauso wie wir die Arbeit von Müttern zu wenig wertschätzen.

Da sind Sie Experte. Sie haben immerhin sieben Kinder.

Und ich bin stolz darauf. Um zu provozieren, pflege ich in Vorträgen gelegentlich zu sagen: Arbeitest du, oder kümmerst du dich als Mutter zu Hause um deine Kinder? Darin zeigt sich das Problem unseres Arbeitsbegriffes.

Angenommen, es gelingt, die hässliche Arbeit weitgehend von Maschinen erledigen zu lassen. Wie sieht dann diese postindustrielle Gesellschaft aus?

Die alte Arbeit orientiert sich an der Umgestaltung der Natur, die neue Arbeit an der Pflege der Menschen.

Werden wir uns dann gegenseitig die Haare schneiden und uns Lieder vorsingen?

Richtig. Jubellieder singen, um genau zu sein.

Wird das nicht irgendwann ein bisschen langweilig?

Langweilig ist doch, wenn ich jeden Tag Blech auf die gleiche Art verformen muss. Interessant wird es, wenn wir uns zusammentun und die Welt erforschen oder die Menschen erfreuen. Ich wurde auch schon gefragt: Soll Deutschland von Hölderlin-Gedichten leben? Wenn es dafür einen Markt gibt, warum nicht?

In Ihrem Buch vergleichen Sie die aktuelle Gesellschaft mit der Zeit vor der Französischen Revolution. Erwarten Sie einen Umsturz?

Wie damals kümmert sich die Elite der Gesellschaft nicht mehr um die Nöte der breiten Bevölkerung. Es ist wie zu Zeiten der Marie Antoinette, die zynisch gesagt haben soll: Wenn die Menschen kein Brot haben, dann sollen sie halt Kuchen essen.

Rechnen Sie ernsthaft mit einer Revolution?

Wenn die Elite nicht zur Einsicht kommt, dann muss sie irgendwann mit rabiaten Methoden rechnen.

Ist so gesehen das Grundeinkommen eine Art unblutige Revolution?

Ich würde eher sagen: Es ist eine Evolution, die man aus Einsicht macht.

Publiziert am 19.09.2010
von: sonntagszeitung.ch

Donnerstag, 2. September 2010

Staatsverschuldung ohne Alternative

In 23 reichen Länder ist die Staatsverschuldung bedrohlich angestiegen. Der Internationale Währungsfonds warnt dennoch vor Überreaktionen an den Finanzmärkten. Kein Grund zur Panik an den Märkten, sagt der IWF: Händler an der Wall Street. Der Autor von TA-Online bringt einen wichtigen Aspekt der Verschuldung auf den Punkt.

Seit der Krise in Griechenland gehört die Angst vor Staatsbankrotten zum Standardrepertoire der Untergangspropheten. Für sie sind Hyperinflation und soziale Unruhen nur noch eine Frage der Zeit. Tatsächlich sind die Schulden der öffentlichen Hand in den meisten Industriestaaten massiv angestiegen. In Griechenland werden sie bis 2013 voraussichtlich 150 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) betragen. Andere Club-Med-Staaten wie Portugal und Italien, aber auch Irland geht es nur wenig besser. Das zeigen neue Studien des IWF. Selbst in Grossbritannien und den USA wird die Verschuldung langsam unheimlich: Bis 2015 wird sie 91, beziehungsweise 110 Prozent des BIP betragen.

Trotzdem warnt der IWF vor einer übertriebenen Angst. «Die Märkte überschätzen das Risiko eines Staatsbankrottes», sagt einer der Verfasser der Studie, Paulo Mauro. Er verweist dabei auf acht ähnliche Beispiele in den letzten 20 Jahren, wo es hochverschuldeten Staaten gelungen ist, ihre Staatsfinanzen ohne Umschuldung zu sanieren. Die Frage, wie viele Schulden ein Staat verkraften kann, ist nicht eindeutig zu beantworten. Japan, das am höchsten verschuldete Land der Welt, lebt seit Jahrzehnten mit seiner Schuldenlast. Es ist dabei nicht auf fremde Hilfe angewiesen, weil die Japaner ihre Schulden selbst mit ihren Spargeldern finanzieren. Und Japan lebt damit gar nicht so schlecht. Es ist zwar richtig, dass das Wachstum der Wirtschaft absolut gesehen seit Jahren bescheiden ist und das Land unter einer leichten Deflation leidet. Doch in Japan nimmt die Bevölkerung bereits ab. Rechnet man das Wirtschaftwachstum auf die entscheidende Grösse um, nämlich pro Erwerbstätigen, dann steht Japan in den letzten Jahren besser da als beispielsweise Deutschland und fast so gut wie die USA.

Die Staatsschulden der reichen Staaten werden noch zunehmen, denn es sind nicht die unmittelbar beschlossenen Konjunkturprogramme, die sie primär verursachen, sondern die Langzeitfolgen. Die beiden Ökonomen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff haben in ihrem Buch «This Time is Different» die wichtigsten Wirtschaftskrisen und ihre Folgen untersucht. Sie kommen zum Ergebnis, dass nach einer Bankenkrise die Staatsverschuldung immer zunimmt, und zwar massiv. «Durchschnittlich nehmen die realen Staatsschulden in den drei Jahren nach einer Bankenkrise um 86 Prozent zu», stellen sie fest. «Die fiskalischen Konsequenzen, die direkte und indirekte Kosten beinhalten, sind viel teurer als die Kosten für das Bail-out.»

Staatsschulden soll man nicht verniedlichen und langfristig ist eine gewisse Inflationsgefahr nicht zu leugnen. Doch Panik ist fehl am Platz. Trotz der hohen Schulden und der Erwartung, dass sie kurzfristig nochmals steigen werden, sind die Zinsen für US-Staatsanleihen auf einem Rekordtief. Zudem: Was wäre die Alternative? Ein knallharter Sparkurs mit dem Versuch, das Budget auszugleichen, hat in den 1930er Jahren in die Grosse Depression geführt. Auch heute ist die Vorstellung absurd. Oder wie es Martin Wolf, Chefökonom der «Financial Times» ausdrückt: «Ich finde die Idee bizarr, den grössten Teil des Finanzsystems einstürzen zu lassen, unkonventionelle Geldpolitik zu vermeiden und das Staatsdefizit so gering wie möglich zu halten – und das als Voraussetzung für einen schnellen und nachhaltigen Aufschwung zu betrachten.»

Quelle: (Tagesanzeiger.ch/Newsnetz)

Dienstag, 24. August 2010

Sozialer Nutzen lässt arbeiten

Bei öffentlichen Gütern versagt der Markt, lernt jeder Student der Volkswirtschaftslehre. Doch der Erfolg von Wikipedia widerlegt diese Theorie und ist eine der am häufigsten besuchten Internetseiten weltweit. Warum, zeigt eine neue Studie.

Was für ein Irrtum. Im Sommer 2002 berichtete die „Berliner Zeitung“ als eines der ersten deutschen Medien über das Internetlexikon Wikipedia – fasziniert, aber auch skeptisch: „Doch mag das Wissensreservoir auch regen Zulauf haben und stetig wachsen: In nächster Zeit wird es ihm wohl nicht gelingen, Referenzwerken wie dem Brockhaus den Rang abzulaufen.“ Keine sechs Jahre später teilte der Brockhaus-Verlag das Aus für das gedruckte Lexikon mit – und Wikipedia ist heute eine der am häufigsten besuchten Internet-Seiten weltweit. Zehntausende arbeiten für Wikipedia, freiwillig und ohne jedes Honorar. Eine Erfolgsgeschichte, die Volkswirte in Erklärungsnöte bringt. Ihre traditionellen Theorien legen nahe, dass es den Aufstieg des Internetlexikons gar nicht hätte geben dürfen. Warum sollten sich rationale Individuen die Mühe machen, unentgeltlich Lexikonartikel für ein anonymes Publikum zu schreiben? Jeder Internetnutzer kann das Onlinelexikon nutzen, ohne dass er selbst Beiträge beisteuert.

Damit ist Wikipedia das, was Volkswirte ein „öffentliches Gut“ nennen – ein Angebot, von dem alle Menschen profitieren und von dessen Nutzung niemand ausgeschlossen werden kann. Klassische Beispiele dafür sind Deiche und Straßenlaternen. Bei öffentlichen Gütern, so lernen angehende Volkswirte im Grundstudium, gibt es ein großes Dilemma: Es existieren starke Anreize zum Trittbrettfahrertum – dazu, das Angebot zu nutzen, ohne eine Gegenleistung zu erbringen. Die traditionelle Volkswirtschaftslehre postuliert: Je größer die Zahl der potenziellen Nutznießer ist, desto mehr Probleme entstehen mit Trittbrettfahrern.

Zumindest bei Wikipedia ist genau das Gegenteil der Fall, zeigt eine neue Studie, die demnächst im "American Economic Review" erscheint: Je größer die Zahl der potenziellen Leser, desto eher sind Menschen bereit, ihre Arbeitszeit für die Online-Enzyklopädie aufzuwenden – vermutlich, weil sie mentale Befriedigung daraus ziehen, dass ihre Text von vielen anderen gelesen werden.

Die Wissenschaftler Xiaoquan Zhang (Hong Kong University of Science and Technology) und Feng Zhu (University of Southern California) weisen diesen Effekt am Beispiel der chinesischen Wikipedia-Seite nach. Sie nutzen aus, dass die Regierung in Peking die Seite wegen politisch unliebsamer Informationen mehrfach zensiert hat. Ab Oktober 2005 zum Beispiel konnten Internetnutzer in China die Wikipedia-Seite fast ein Jahr lang nicht aufrufen. Durch die Blockade hat sich die Zielgruppe von Wikipedia über Nacht drastisch verringert. Millionen Internetnutzer waren plötzlich ausgeschlossen. Für chinesischsprachige Menschen in Taiwan, Hongkong und dem Rest der Welt blieb die Seite dagegen nutzbar.

Welche Folgen hatte das für die Aktivitäten auf der Webseite? Die Forscher konzentrierten sich auf das Verhalten der Nutzer außerhalb der Volksrepublik China – Menschen, die trotz Sperre weiter auf die Seite zugreifen und sie ändern konnten. Zhang und Zhu nutzen aus, dass alle Änderungen in Texten auf der Wikipedia-Seite detailliert protokolliert werden und Rückschlüsse zulassen auf das Land, in dem die Autoren leben. Sie verglichen die Aktivitäten bei Wikipedia unmittelbar vor und nach der Sperre. Sie stellten fest: Mit Beginn der Blockade haben sich chinesischsprachige Internetnutzer außerhalb der Volksrepublik deutlich weniger für Wikipedia interessiert – sie schrieben schlagartig weniger neue Beiträge und erweiterten bestehende Texte viel seltener.

„Die Beteiligung von nicht blockierten Autoren ist durch die Blockade im Schnitt um 42,8 Prozent zurückgegangen“, stellen die Ökonomen fest. Der Grund: Die Mitarbeit bei Wikipedia verschaffe den einzelnen Autoren Befriedigung – die Forscher sprechen dabei von „sozialem Nutzen“. „Die schrumpfende Gruppengröße reduziert diesen Nutzen“, schreiben sie. Ein Indiz dafür: Gerade die Autoren, denen der soziale Aspekt von Wikipedia besonders wichtig war und die sich intensiv in den Diskussionsforen des Lexikons tummelten, schrieben mit Beginn der Sperre deutlich weniger. „Unsere Studie liefert empirische Belege dafür, dass soziale Effekte stärker sein können als die Neigung zum Trittbrettfahrertum“, lautet das Fazit. Die Studie zeigt damit erneut: Volkswirte machen einen Fehler, wenn sie den Menschen zum reinen Egoisten erklären – dann können sie viele Phänomene des wahren Lebens nicht richtig erklären.

„Group Size and Incentives to Contribute: A Natural Experiment at Chinese Wikipedia“ , von Xiaoquan Zhan und Feng Zhu, erscheint in: American Economic Review

Quelle: Handelsblatt

Elinor Ostrom im Interview

af8eb3bd-86e1-4569-a99b-6e0c9fba0589

Die Wirtschaftssendung «ECO» hat die Nobelpreisträgerin exklusiv in Frankfurt getroffen. Elinor Ostrom hielt einen Gastvortrag an der Frankfurt School of Finance & Management.Im Interview erklärt sie, unter welchen Bedingungen gemeinschaftliche Regeln funktionieren und wann staatliche Regulierung notwendig ist. Englischsprachiges Original

Quelle: Schweizer Fernsehen

Mittwoch, 16. Juni 2010

Vom Unsinn der Werbung

Die Post wirbt für Werbung in Briefkästen - trotz Werbestopp-Klebern. Die Begründung des gelben Riesen: Werbung sei ein wichtiger Ertragspfeiler. Hätte es noch eines Beweises bedurft, dass häufig für unsinnige Produkte und Dienstleistungen geworben wird, ist er hiermit erbracht.

Der Tages-Anzeiger berichtet von folgendem Beispiel: Markus Ammann* wunderte sich nicht schlecht. Letzte Woche lag ein Brief der Post in seinem Briefkasten, in dem sie für Direktwerbung wirbt. Beigefügt war ein Kleber für seinen Briefkasten mit der Aufschrift: «Werbung? Ok!». Dabei prangt an Ammanns Briefkasten klar und deutlich bereits die gegenteilige Botschaft: «Werbung nein danke!». Ammann ist empört.

Damit steht er nicht alleine da. In den letzten Tagen ging bei der Stiftung für Konsumentenschutz eine ganze Reihe von Beschwerden ein. «Viele Menschen ärgern sich über die ungebetene Post», sagt Geschäftsleiterin Sara Stalder. Die Werbe-Kleber gingen in der letzten Woche an 170'000 Haushalte mit Stopp-Klebern in den Kantonen Bern, Luzern und St. Gallen. Zusammen mit dem Kleber erhielten sie ein Gratismuster Nescafé Gold und ein Schreiben mit dem Versprechen, dank dem Kleber könnten die Empfänger künftig von unadressierter Werbung und von Warenproben profitieren. Gegen das Gesetz verstösst der «Briefkasten-Spam», wie Ammann es nennt, zwar nicht. Die Werbung ist adressiert. Die Anschriften hat die Post von Adresshändlern gekauft.

Die Aktion geht diese Woche in 180'000 Haushalten im Kanton Zürich und den beiden Basel weiter. Allerdings in abgeänderter Form: Hier werden keine Kleber verteilt. Das Motto lautet: «Sagen Sie Ja zu Werbung, die Sie wirklich interessiert!». In diesem Sinne sollen die Haushalte angeben, zu welchen Themen die Post ihnen künftig Warenproben und Werbung schicken darf. Beigelegt ist ebenfalls ein Gratismuster Nescafé Gold.

Konsumentenschützerin Stalder findet die Aktion daneben: «Es ist nicht Auftrag der Post, Leute umzustimmen und für Werbung empfänglich zu machen.» Insbesondere stört es sie, dass die Post die Konsumenten mit Gratismustern ködert: «Das ist billige Bestechung.» Auch das Konsumentenforum hat «wenig Verständnis».

Die Post versucht nicht zum ersten Mal, das Interesse der Konsumenten für ihre Direktwerbung anzuheizen. 2006 hat sie schon einmal einen Versuch in Basel und Zürich gemacht. Damals hat sie den Konsumenten zuerst angeboten, den alten Stopp-Kleber kostenlos und professionell vom Briefkasten zu entfernen. Danach schwenkte sie auf einen Pro-Werbe-Kleber um, wie er jetzt etwa in Bern verschickt wurde. Die Aktion erzielte jedoch kaum Wirkung. In Zürich stiegen lediglich 3 Prozent der Angeschriebenen auf das Angebot ein – obwohl die Post den Wechselwilligen sogar eine Prämie versprach.

Der Kampf der Post gegen die Stopp-Kleber ist auf eine Schweizer Eigenart zurückzuführen. Hierzulande prangt gemäss Zahlen von Publimedia an knapp 45 Prozent der Briefkästen ein solches Verbot – das sind gut 1,7 Millionen Haushalte. Im Kanton Zürich will mit 60 Prozent die Mehrheit der Bevölkerung keine unadressierte Werbung, in der Stadt Zürich sind es sogar 70 Prozent.

«In Deutschland und Österreich liegt der Anteil bei lediglich 10 Prozent», sagt Postsprecherin Nathalie Salamin. Sie verteidigt die Werbeaktion: «Wir wollen die Leute nicht bedrängen. Wenn jemand keine Werbung will, ist das in Ordnung.» Direktwerbung ist laut Salamin für die Post ein wichtiger Einkommenszweig, der viele Arbeitsplätze sichert. Die Post ist eine bedeutende Akteurin bei der Verteilung von Direktwerbung. Sie stellt zwei Drittel der adressierten und die Hälfte der nicht adressierten Werbesendungen in der Schweiz zu. Obwohl Experten davon ausgehen, dass das Internet die Direktwerbung im Briefkasten zunehmend verdrängen wird, sind die Umsätze aus der Zustellung in den letzten Jahren nur leicht gesunken auf 1,25 Milliarden Franken 2009.

Quelle: Tages-Anzeiger 16. Juni 2010

Montag, 26. April 2010

Ökofonds sind konkurrenzfähig

Ökologische und ethische Aktienfonds Welt konnten in den vergangenen schwierigen fünf Jahren gut mit klassischen Fonds mithalten.

Knapp ein Fünftel der sauberen Fonds hat eine Rendite von mehr als 2,5 Prozent pro Jahr geschafft, keiner liegt unter minus 5 Prozent – im Schnitt ist das vergleichbar mit klassischen Fonds. Die Stiftung Warentest hat in der Mai-Ausgabe der Zeitschrift Finanztest die besten sauberen Fonds verglichen und gibt Empfehlungen für ein ökologisches und ein ethisches Muster-Depot.

Nachhaltige Fonds gibt es mittlerweile für fast alle Anlageklassen. Mit der Auswertung von Finanztest ist eine 100 Prozent nachhaltige Geldanlage ist daher kein Problem mehr. Die vielen Angebote mit ihren sehr unterschiedlich strengen Kriterien machen den Markt auch unübersichtlich. Wer nicht möchte, dass Öl-, Rüstungs- oder Atomfirmen im eigenen Depot landen, kann mit dem Test von Finanztest genau hinschauen, wie Öko und Ethik im Einzelfall definiert ist.

Empfehlenswert ist zum Beispiel der global anlegende Aktienfonds Green Effects NAI-Werte. Er hat die strengsten Ausschlusskriterien für umweltschädliche und unethische Branchen und gleichzeitig die beste Finanztest-Bewertung für Wertentwicklung und -Stabilität. Gut abgeschnitten hat auch der Pioneer Global Ecology und der Swisscanto Green Invest - die beide in der Schweiz aktiv vertrieben werden.

Demgegenüber ist der Siegerfonds Green Effects im Nachteil: Es sind nur 30 Aktien in dem Fonds – als Basisanlage ist das zu wenig, der Fonds eignet sich daher nur zur Beimischung. Und er ist offiziell in der Schweiz nicht zum Vertrieb zugelassen - das heisst, er darf nicht beworben, auf Anfrage der Kundschaft aber verkauft werden.

Für den sicheren Teil des Depots eignen sich zum Beispiel Rentenfonds. Auch hier gibt es Fonds mit Öko- und Ethik-Schwerpunkt, die Staaten nach ihren Umweltgesetzen oder nach der Haltung zur Todesstrafe bewerten. Doch bei Staatsanleihen müssen Anleger zwangsläufig Kompromisse eingehen, denn die wenigsten Länder haben eine vollständig weiße Weste. Der Test mit den besten Ethik- und Ökofonds ist in der Mai-Ausgabe der Zeitschrift Finanztest veröffentlicht, die vollständige Übersicht aller sauberen Fonds online:

© Oekonomedia / Quelle: Sonnenseite / Stiftung Warentest 2010

Dienstag, 6. April 2010

Ökobonus für Sozialausgleich

Effektiver Klimaschutz würde fossile Energie deutlich verteuern. Damit daraus im In- wie im Ausland keine sozialen Schieflagen entstehen, müssen Klima- und Sozialpolitik aus einem Guss sein. Strikte Grenzen für den Ausstoß von Klimagasen, ein umfassender Emissionshandel und ein aus dessen Erlösen gezahlter globaler Ökobonus für alle Menschen bieten dazu einen Ansatz.

Zu diesem Ergebnis kommt eine neue, von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie von Prof. Dr. Felix Ekardt, Professor für Umweltrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Rostock. Die Angst vor sozialen Verwerfungen hält Politiker in westlichen Ländern von weit reichenden umweltpolitischen Maßnahmen ab, konstatiert der Leiter der Forschungsgruppe für Nachhaltigkeit und Klimapolitik. Entwicklungs- und Schwellenländer befürchteten wiederum, Klimaschutz stehe der wirtschaftlichen Entwicklung entgegen. Dabei ist klar: Wenn der Ausstoß klimaschädlicher Gase nicht in naher Zukunft deutlich zurückgeht, wird der Klimawandel Nord und Süd am Ende noch viel teurer zu stehen kommen.

"Die bisher verfolgte und beim Klimagipfel in Kopenhagen wieder bestätigte Strategie der Politik, sich aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen mit unzureichenden Klimazielen zufrieden zu geben und damit langfristig den sozial verheerenden Klimawandel in Kauf zu nehmen, ist gescheitert", betont Ekardt. Nötig sei ein neues globales Instrumentarium, das "eine radikale Klimawende im offensichtlichen Eigeninteresse fast aller Menschen und Staaten" möglich mache, anders als in den in Kopenhagen diskutierten Ansätzen.

Der Wissenschaftler schlägt vor, den Emissionshandel auf den gesamten Verbrauch fossiler Energien auszudehnen, dabei erheblich ehrgeizigere Reduktionsziele zu setzen - und die Erlöse in jedem Staat gleichmäßig unter den Bürgern zu verteilen. Dieser Ökobonus soll einen Ausgleich für Preissteigerungen bei Energie und den Produkten energieintensiver Industrien bieten. Der Mechanismus würde eine Klimapolitik ohne übermäßige soziale Härten ermöglichen, erwartet Ekardt: "Da der Ökobonus jedem zukommt, aber die Gutverdienenden als Energiemehrverbraucher mehr zu seiner Finanzierung beitragen, hebt dies eine etwaige soziale Schieflage der Klimapolitik auf."

Denn wenn jemand genau so viel Energie - und die damit verbundene Klimabelastung - in Anspruch nimmt, wie nach Maßgabe der politisch vorgegebenen Emissionsziele pro Person zur Verfügung steht, dann heben sich empfangener Ökobonus und gezahlte Emissionsabgaben idealtypisch auf. Wer besonders ressourcenschonend lebt, macht Gewinn. Und wer überdurchschnittlich viel Energie verbraucht, zahlt mehr.

Das Modell würde nicht nur zur gerechten Lastenverteilung innerhalb eines Landes beitragen - etwa indem Hartz-IV-Empfänger qua Ökobonus von höheren Abgaben der Besserverdiener auf Kauf und Betrieb klimaschädlicher Geländewagen profitieren, zeigt der Jurist und Soziologe auf. Auch zwischen Industrie- und Entwicklungsländern käme es zu einem Ausgleich: Da Energieverbrauch und Schadstoffausstoß pro Person in entwickelten Ländern wesentlich höher sind als in weniger entwickelten Staaten, wären beispielsweise die Europäer gezwungen, viel mehr Emissionsrechte zu kaufen und folglich viel höhere Kosten an die Endverbraucher weiterzugeben als südliche Länder. Zudem gelänge der soziale Ausgleich dadurch, dass der Ökobonus im Süden höher wäre als im Norden.

Um das Modell umzusetzen, hält Ekardt folgende Rahmensetzungen für sinnvoll:
- Die "erlaubten" Mengen an Klimagasausstößen berechnen sich anhand der Einwohnerzahl der Erde. Beginnen würde man mit dem aktuellen globalen Durchschnitt: 5 Tonnen pro Mensch. Das zulässige Maß müsste dann in vielen kleinen Schritten jährlich absinken - auf 0,5 oder 0,7 Tonnen pro Mensch im Jahr 2050.
- Die Ermittlung und finanzielle Abrechnung des Klimagasausstoßes setzt bei der Gewinnung von und dem Handel mit Primärenergieträgern an, also bei Kohle-, Gas- und Öl-Unternehmen. Jeder Importeur oder Verkäufer von fossilen Brennstoffen muss bei einer Auktion Emissionsrechte erwerben. Anders als beim bisherigen EU-Emissionshandel würden so fast sämtliche Klimagasausstöße erfasst. Zudem wären die Ziele strenger und die Landnutzung einzubeziehen.
- Die Primärenergieunternehmen würden ihre Ersteigerungskosten für die Emissionsrechte gleichmäßig über Produkte, Strom, Wärme und Treibstoff an die Endverbraucher weitergeben; umgekehrt würden sie Versteigerungs-Einnahmen pro Kopf an alle Menschen verteilen (Ökobonus). In Ländern, in denen die nötige Infrastruktur zur individuellen Auszahlung des Ökobonus (noch) fehlt, könnte das Geld übergangsweise in soziale Projekte fließen.
- Diese Grundgedanken können über eine globale Institution verwirklicht werden, sie können aber auch - dies ist Gegenstand der Studie - in einen komplexen Staaten- und Unternehmensemissionshandel übersetzt werden. Dabei gibt es eine jährlich sinkende, an der Einwohnerzahl orientierte Emissionsrechte-Zuteilung an die Staaten (quantitativ leicht verschoben zugunsten des Südens). Die Staaten dürfen dann Emissionsrechte handeln, und innerhalb ihrer Grenzen wird die jedem Staat danach verbleibende Menge in einen Primärenergie-Emissionshandel der Unternehmen und in einen Ökobonus übersetzt.

Der Bonus fällt dann wegen des vorangegangenen Staatenemissionshandels im Süden deutlich höher aus als im Norden, weil die Staatenemissionshandelskosten die Verteilungsmasse im Süden erhöhen und im Norden mindern. "Das gesamte Modell dient in jedem Fall dem ökonomisch-sozialen, friedenspolitischen und ökologischen Interesse fast aller Beteiligten weltweit und habe deshalb Chancen auf weltweite Akzeptanz", sagt Ekardt. Es sei zudem gerecht, weltweit allen Menschen gleiche Emissionsrechte zuzugestehen und durch die Konstruktion des Modells einen teilweisen Ausgleich für die historische Verursachung des Klimawandels durch den Westen zu schaffen. So könne man in Entwicklungsländern Entwicklung ermöglichen sowie Klimaschutz und Klimawandelsfolgen finanzieren.

Zwar erfordere der Ansatz eine starke internationale Organisation, der es gelinge, weltweit gültige Spielregeln durchzusetzen. Dies sei jedoch kein Novum. Als Beispiel nennt Ekardt die Welthandelsorganisation WTO. Nach deren Vorbild ließe sich das bereits existierende Klimasekretariat der Vereinten Nationen "zu einer schlagkräftigen Weltklimabehörde ausbauen".

Quellen: Hans-Böckler-Stiftung 2010 / Sonnenseite

Samstag, 13. März 2010

Freier Markt ist Theologie

Kapitalismus ist eine Religion – wobei nur eine Kyrptoreligion oder Spätform, die instrumentalisiert und missbraucht wird. Der scheidende Ethik-Professor Ulrich äusserte sich auf Schweizer Fernsehen.

«Ethik ist eine Reflexionsform – und in diesem Sinn hat es sich gelohnt, entsprechende Gedanken tausenden von Absolventen der HSG mitzugeben.» Wirtschaftsethik ist dann ein Stück nachholende Aufklärung in einem Bereich, der das noch dringend nötig hat – so Eberhard Ulrich nach seiner Abschiedsvorlesung, reflektiert mit Roger de Weck auf SF 1. Mehr Markt, Marktgläubigkeit, Marktkoordination hat kein eingebautes Harmoniepotential – eine Annahme, die daher rührt, der ungeregelte Markt sei eine natürliche Ordnung und diese eine Schöpfung Gottes, der die Natur weise eingerichtet habe – ergo werde alles gut, wenn wir alles der Selbststeuerung der Marktkräfte überlassen. Wer hingegen eingreifen will, gilt als Ketzer dieser markttheologischen Sicht.

Gescheitert ist die andere Koordination natürlich auch, jene des Plans, zu verstehen aus der Konstellation des kalten Krieges. Resultat waren sozialpolitische Zugeständnisse, in denen Bevölkerung nicht aufbegehrte gegen Wirkung einer entfesselten Marktsteuerung. Nach 1989 kam es zum Triumpfgeheul des sich siegreich wähnenden Kapitalismus. Ulrich warnte allerdings schon damals, dass beide gleich alt seien, Kommunismus wie Kapitalismus, beide waren ihm damals schon Metaphern, also metaphysische, übernatürliche Glaubenssystemen – die an realen Ereignissen nicht scheitern konnten.

Marktwirtchaft ist eine rechtsstaatliche Veranstaltung – das spezifiziert noch keine Wirtschaft – dass Markt gebraucht wird, ist trivial, aber es gibt viele Varianten. Es braucht immer intelligenten Mix von Marktsteuerung und rechtstaatlichen Bedingungen sowie Anreizstrukturen. Dazu kommt eine Gesellschaft, die zwischen Wirtschaft und Gesellschaft unterscheiden kann. Arbeitslosigkeit und wachsende Ungleichheiten kennzeichnen letztere, und sind durch erstere nicht zu lösen – obwohl links wie rechts glauben, es gebe wirtschaftliche Antworten. Vielmehr bräuchten diese gesellschaftspolitischen Probleme auch gesellschaftspolitische Lösungen.

Marktwirtschaft funktioniert an sich ausgezeichnet, Folgeprobleme sind das Resultat einer Erfolgsgeschichte durch Rationalisierungsdynamik unter gegebenen Bedingungen führt zur Wegrationalierung von Arbeit. Kein Wirtschaftsführer beabsichtige, Arbeitsplätze zu schaffen «Glauben Sie diesbezüglich keinem!», so Ulrich in seinem Gespräch. Arbeitsplätze sind Kosten, die es zu minimieren gilt. Ziel ist Eigenkapitalrendite. Entsprechend, so de Weck in einem launischen Einwurf, heisst es ja auch nicht Laborismus, sondern Kapitalismus. Mit Markt hat das aber rein gar nichts zu tun.

Wirtschaftliche und politische Liberalisierung gingen ursprünglich Hand in Hand, im Laufe des 19. Jahrhunderts ging das einen anderen Weg – in dessen Mitte ein ungeheurer Boom mit enormem Wohlstandsgewinn. An dessen Ende tauchte die soziale Frage auf (1870), denn die Armut für alle war nicht beseitigt mit einem erfolgreichen Bürgertum und auf der anderen Seite mit dem Proletariat oder zeitgemässer mit dem Prekariat, Menschen, die in prekären Lebenslagen mit tiefgreifender existentieller Verunsicherung. Damals war das Bürgertum eine progressive Macht, die NZZ eine linke Zeitung. Sollte das Projekt an Freiheit für Alle festhalten oder erworbene Privilegien bewahren – wofür sich das Bürgertum entschied. Das emanzipatorische Projekt einer Bürgergesellschaft für Alle war damit den Linken vorbehalten.

In dieser Zeit entstanden unter Bismark die ersten Sozialversicherungen. Diese frühe Form einer sozialen Marktwirtschaft hatte allerdings einen Geburtsfehler: Der Sozialstaat sollte im Nachhinein die Symptome lindern und korrigieren als Reperaturbetrieb. An Ursachen hat man bis heute nichts geändert. Gibt es also ein System, in dem die soziale Frage mitschwingt. Nicht nach einem System ist zu suchen, das das realisiert im Sinne eines Mechanismus, der automatisch dafür sorgt, alle gesellschaftlichen Koordinationsprobleme perfekt zu lösen. Wir sollten vielmehr gelernt haben, dass erstens ein intelligenter Mix von Markt und Staatssteuerung unverzichtbar ist, dass zweitens das so konzipierte System der Einbettung in eine modernen Gesellschaft bedarf – dort sind die Hauptprobleme.

Vordergründig hat sich das mw-System in Eigensinn und Unsinn verselbständigt. Das ist aber nicht grundlos geschehen. Warum haben die Menschen denn diese Entkoppelung gebilligt. Dahinter steht ein Gedankenbett: Noch die ärgsten Marktideologen müssen davon überzeugt sein, das sei eine legitime Wirtschaftsordnung – die meisten sind marktgläubig und setzen voraus, dass der Staat diese Deregulierung machtvoll durchsetzen kann. Also auch die Liberalen vertrauen auf den Staat! Ein solches System muss etabliert sein, durchgesetzt werden mit Eigentums-, Haftungs- und Vertragsrechten. Unter ihrer Ägide ist die Rolle des Staates oft sogar explosionsartig gewachsen.

Der sozialdemokratische Kompromiss schien nach 1989 nicht mehr nötig, also durfte Kapitalismus hemmungsloser werden. Das ebnete dem Neoliberalismus den Boden. Nun nach 25 Jahren dieses Zeitgeists scheint er am Ende der Fahnenstange angekommen zu sein. Die Entbettung der Wirtschaft findet allerdings nicht staat, sondern gemäss de Weck eher die Übernahme der Gesellschaft durch die Wirtschaft. Der Hilfsbedürftige wird zum Klienten, zum Marktobjekt des Sozialarbeiters. Der wird damit nur vermeintlich geadelt. Diese Verkehrung der Verhältnisse, die Ökonomisierung von fast allem, allen Lebensbereichen und der ganzen Welt (Globalisierung), der Politik, die zum Verwalter der Sachzwänge wurde, die die Marktwirtschaft geschaffen hat. Der Standortwettbewerb, der immer auch ein Ordnungswettbewerb ist, hat das Seine dazu beigetragen.

Wettbewerb ist vielleicht auf politische Einheiten gar nicht anwendbar. Der Primat der Politik ist die vernünftige Vss. für jede Gestaltbarkeit der Wirtschaftsordnung, nur das ist vernünftig. Hat nicht dennoch das Geld immer die Macht, so de Weck? Entgegenhält Ulrich die Rolle der Ethik. Sie hat sicher nicht die Macht , Verhälntnisse zu ändern, nur Begriffe zu klären. Marktsteuerung ist nicht per se gut, weil Markt machtvoll ist als Beispiel. Denn er bildet Machtverhältnisse im Idealfall ab, jeder kann gut verhandeln, aber mehr liegt nicht drin. Die Mächtigen sind deshalb immer f¨ür Deregulierung, die Schwächeren reagieren skeptisch. Ausgleich ist zu suchen, wir brauchen dafür eine zivilisierte Marktwirtschaft, deren gutes Funktionierne gemessen wird, die sie für die civil society leistet. Freie und gleichberechtigte Bürger, ein urschweizerisches Ideal, das uns abhanden gekommen ist.

Wie kommen wir dorthin. Der Ethiker gibt durchaus Antworten: Eine gute Wirtschaftsordnung fällt nicht vom Himmel, also trägt jemand Verantwortung. In einer modernen Gesellschaft bilden die Bürger den Kern. Sie stehen vor Herausforderung, auch im Wirtschaftsleben den gleichen Bürgersinn gelten zu lassen, der sonst als normal gilt. Also das Nutzenstreben nicht abspalten, sondern integrieren. Demokratie und MW als Gegensatz also? Nein, wir sind einfach noch zu stark von Ideologien geprägt. Denn es ist nicht schwer klar zu machen, dass Lebensqualität sich nicht in Konsum erschöpft. Freiheit heisst nicht Konsumfreiheit, also herrscht Zuversicht, dass moderne Bürger ihre Rechte als zentral anschaut und nicht einfach Konsum.

Aber gerade HSG-Absolventen gehen doch diesen Weg? Der Einfluss der Uni hält sich in Grenzen vielmehr. Und es hat alle Arten von Denkmustern – vielleicht hat sich im Laufe der Jahre was verschoben. Die Jungen heute mit ihrer Offenheit übernehmen alte Doktrinen nicht einfach so (Wüstenhagens Erfolg). Aber wie im Velorennen gibt es Vorhut und Nachzügler. Wer heute das Sagen hat, repräsentiert die alte Denke. Die HSG hat immerhin Kontextstudium eingefügt mit grösserem Rahmen im Studium – 25% der Credits in geistes- und sozialwiss. Studiums zu erwerben – gegen das Fachidotentum.

Schon Sik hat nach drittem Weg gesucht, war aber Einzelgänger. Immer nur ein Mauerblümchen? Das stimmt so nicht mehr, ein Drittel der ProfessorInnen denken wie der hausinterne Wirtschaftsethiker. Vielleicht herrscht da auch selektive Wahrnehmung ausserhalb. Gerade Staatsrechtler haben noch Sinn für die Rangordnung der Dinge. Zuerst die Ethik, dann die Politik, dann erst die Ökonomie. Andernorts ist das natürlich anders. Moralphilosoph war auch Adam Smith. Von Fachökonomen wird immer nur der halbe Smith gelesen (Vom Wohlstand der Nationen). Er wurde Ökonom, weil er ein Problem der Moralphilosophie nicht lösen konnte. Wie das richtige tun?

Eine Marktgesellschaft ist der Feind des legitimen Marktes. Vielmehr muss MW eingebunden sein in Gesellschaft, die Risiko so mindern kann. Weniger Markt kann heissen mehr Gleichheit, geringere Blasenrisiken – das sind gesellschaftliche Ziele. Röpke sagte auch als Marktwirtschafter, Liberalismus ist nicht primär wirtschaftlich – sondern gesellschaftlich . Siehe Dänemark: Niemand soll aus gesell. Rahmen herausfallen, dann wird Markt entfesselt. Trotz hoher Staatsquote hoch wettbewerbsfähig, Flexicurity. CH ist mittlere Form mit ihrem basisdemokratischen Denken, das sich teils positiv niedersclhägt etwa in AHV, die eine Art Bürgerversicherung ist mit ihrer Minimalrente, die Hälfte des Maximums ist. «Solche stark bürgerrechtliche Traditionen sollten wir aus- nicht abbauen.»

Inti hier

Abschiedsvorlesung bei: Ulrich

© Oekonomedia

Dienstag, 23. Februar 2010

Grundeinkommen für Alle

Hartz IV, Bafög, Wohn- und Kindergeld - der Sozialstaat hat sich völlig verzettelt. Nötig ist jetzt eine radikale Reform der Sicherungssysteme: Deutschland braucht ein Grundeinkommen für alle, ohne jede Bedingung. So der Kommentar von Thomas Straubhaar ist Professor für Volkswirtschaft an der Universität Hamburg und Leiter des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI). Die Schweiz ebenso, möchte man anfügen.

FDP-Chef Guido Westerwelle hat eine Hartz-IV-Debatte angestoßen, nun diskutiert Deutschland über den Sozialstaat im Allgemeinen. Dies ist sicher richtig, solange man ernsthaft bleibt. Falsch aber ist es, aus dem Fehlverhalten einzelner Menschen die Politik fürs Ganze abzuleiten. Zweifelsfrei gibt es jene, die den Sozialstaat missbrauchen. Ebenso ohne Zweifel gibt es aber auch Obdachlose, die erfrieren, und Familien, die bittere Not leiden. Auch in Deutschland.

Beide Erscheinungen - Missbrauch wie extreme Armut - sind aber nicht charakteristisch für die Gesamtheit der Gesellschaft. Fakt ist, dass die meisten Hartz-IV-Empfänger arbeiten würden, wenn sie einen Job fänden. Allerdings zeigt eine internationale Vergleichsstudie der OECD, dass in Deutschland die Anreize für Erwerbslose gering sind, sich eine Stelle zu suchen. Die Differenz zwischen einem Leben auf Kosten des Sozialstaats und einem Einkommen durch Arbeit ist ganz offensichtlich zu gering. Gerade für wenig qualifizierte (Langzeit-) Arbeitslose macht dies den Weg in die Erwerbstätigkeit wenig attraktiv.

Fakt ist aber auch, dass absolute Armut in Deutschland kein Massenphänomen ist. Im Gegenteil: Deutschland steht im internationalen Vergleich gut da. Das Armutsrisiko ist hierzulande geringer als im EU-Durchschnitt. Es ist fast so niedrig wie in den Vorzeigeländern Niederlande, Schweden und Dänemark. An diesem positiven empirischen Beleg ändert auch nichts, dass die Schere zwischen Arm und Reich auseinandergeht. Denn dies hat wenig mit dem Sozialstaat zu tun, dafür aber viel mit dem Bildungssystem, den Aufstiegsmöglichkeiten der Erwerbstätigen und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Die Politik muss das Ganze im Auge haben und nicht den Einzelfall, der womöglich als ungerecht empfunden wird. Es ist die große Schwäche der deutschen Sozialpolitik, gerade im Vergleich zu den USA, dass sie zu stark am Einzelfall orientiert ist. Auch in den USA werden schreckliche Schicksale medial zu Sensationsereignissen aufgebauscht. Daraus werden aber keine sozialpolitischen Forderungen abgeleitet. In Deutschland hingegen dient der Einzelfall viel zu oft dazu, konkrete Politik zu begründen.

Gute Politik sieht anders aus. Sie muss so gestaltet sein, dass schreckliche Einzelfälle so unwahrscheinlich werden wie möglich. Gleichzeitig sollte die Masse der Menschen bessere Chancen erhalten, ihre eigenen Lebenspläne in Sicherheit und Würde zu verwirklichen. Wer die Sozialpolitik in Deutschland deblockieren will, darf nicht an einzelnen Schrauben eines morschen Sicherungssystems drehen. Korrekturen innerhalb des Systems rufen andernorts neue Probleme hervor. So verdrängen öffentlich finanzierte Jobs zunehmend reguläre Beschäftigung. Hinzu kommt, dass der Sozialstaat an seine finanzielle Belastungsgrenze kommt. Viele Erwerbstätige, die heute Renten oberhalb der Mindestsicherung finanzieren, werden später selbst nur noch eine Mindestrente erhalten. Generationengerechtigkeit und der Grundsatz "Alterslohn für Lebensleistung" sind so nicht mehr gegeben.

Nötig ist deshalb eine ganzheitliche Rundumerneuerung der sozialen Sicherung. Deutschland braucht einen Systemwechsel hin zu einer steuerfinanzierten Grundsicherung für alle, hin zu einem bedingungslosen Grundeinkommen. Ein bedingungslos gewährtes Grundeinkommen erfordert eine grundlegende Steuerreform. Es geht darum, die komplexe und wenig effiziente deutsche Umverteilungsmaschinerie zu vereinfachen und zu verbessern. Das undurchschaubare Geflecht von personenbezogenen Steuern, Abgaben und Transfers sollte zu einem einzigen universalen Steuer-Transfer-Instrument zusammengezogen werden.

Die Idee ist folgende: Der Staat gewährleistet allen Bürgern vom Säugling bis zum Greis lebenslang ein existenzsicherndes monatliches Einkommen. Das Grundeinkommen wird bedingungslos und damit ohne bürokratischen Aufwand ausbezahlt. Alle erhalten das Grundeinkommen, unabhängig, ob jung oder alt, beschäftigt oder arbeitslos, verheiratet oder Single. Das Grundeinkommen bleibt steuerfrei. Auf der anderen Seite werden alle Einkünfte aus Arbeit, Zinsen und Dividenden, Miete und Pacht vom ersten bis zum letzten Euro an der Quelle erfasst und mit einem einheitlichen und gleich bleibenden Steuersatz belastet.

Die meisten der heutigen Sozialtransfers könnten durch das Grundeinkommen ersetzt werden. Statt all der vielen einzelnen Sozialleistungen wie Grundrente, Sozialhilfe, Arbeitslosengeld II (Hartz IV), Bafög, Wohn- und Kindergeld sollte es nur noch das Grundeinkommen geben. Auch Gutverdiener kommen in den Genuss staatlicher Unterstützungg. Ein immer wieder erhobener Einwand gegen das Grundeinkommen ist, dass alle einen Finanztransfer erhalten - auch jene, die nicht bedürftig sind. Auf den ersten Blick scheint es in der Tat merkwürdig, wenn Gutverdiener und Vermögende in den Genuss staatlicher Unterstützung kommen.

Dieses Argument lässt sich leicht entkräften. Zwar bekommen auch Reiche das Grundeinkommen. Sie "finanzieren" diesen Transfer aber auch - durch die Bruttobesteuerung ihrer Einkommen. Netto bleiben sie damit Steuerzahler. Anders formuliert: Auch mit dem Grundeinkommen wird die Masse der Deutschen weiterhin Steuern zahlen. Das Grundeinkommen ist nichts anderes als ein Steuerfreibetrag in Höhe des Existenzminimums - so wie er bereits heute in Deutschland allen gewährt werden muss. Hier liegt auch die Rechtfertigung für die Bedingungslosigkeit: Eine aufgeklärte Gesellschaft mit christlichen Werten wird zu Recht niemals zulassen, dass Menschen ohne Nahrung und Kleider, obdach- und würdelos dahinvegetieren. Sie wird in jedem Fall einen Absturz ins Bodenlose zu verhindern suchen und ein Auffangnetz auslegen. Das bedingungslos gewährte Grundeinkommen macht hier nur explizit, was implizit ohnehin besteht.

Klar ist auch: Der ökonomische Sinn der Grundeinkommensidee steht und fällt mit der Höhe des Transfers. Wie soll das Existenzminimum bemessen sein, das der Staat bedingungslos für alle sichert? Im Endeffekt ist dies eine politische Entscheidung, für die ein äußerst einfacher ökonomischer Zusammenhang gilt: Ein hohes Grundeinkommen erfordert hohe Steuersätze, ein niedriges Grundeinkommen ermöglicht niedrige Steuersätze. Hohes Grundeinkommen und hohe Steuersätze verringern den Anreiz zu arbeiten, niedriges Grundeinkommen und niedrige Steuersätze verstärken den Anreiz zu arbeiten. Je höher der Anreiz zu arbeiten ist, desto einfacher wird das Grundeinkommen zu finanzieren sein. Je geringer die Arbeitsanreize sind, desto weniger wird das Grundeinkommen finanzierbar sein.

Natürlich wird ein bedingungsloses Grundeinkommen nicht aus der Realität ein Paradies und aus Egoisten Gutmenschen machen. Es wird weiterhin Menschen geben, die auch dieses System hintergehen, missbrauchen und zu ihren eigenen Gunsten ausnutzen. Aber darum geht es nicht. Es geht nicht darum, wegen ärgerlicher Ausnahmen Politik für Einzelfälle zu machen. Es geht um die Suche nach einer neuen Sozialpolitik, die gesamtheitliche Lösungen für alle ermöglicht.

Quelle: Spiegel Online

Montag, 1. Februar 2010

De Wecks neues Gleichgewicht

Der Kapitalismus brauche eine Gegenkraft in Gestalt eines starken Staats, sagt Buchautor und Journalist Roger de Weck im Interview des Nachhaltigkeitsportals. Dieser Staat müsse eine vernünftige Marktordnung durchsetzen, denn letztlich seien es die natürlichen Ressourcen, die uns allen Grenzen setzten.

Urs Fitze (Nachhaltigkeitsportal): Das Ende des Kommunismus vor zwei Jahrzehnten wurde als endgültiger Sieg des Kapitalismus gefeiert. Jetzt stecken wir in der Krise. Was ist schief gelaufen?

Roger de Weck: Sein Triumph ist dem Kapitalismus schlecht bekommen. Er baut auf den Gedanken des Wettbewerbs, der die Welt voranbringe, aber er selbst hat keinen Wettbewerber mehr. Die Oberschicht muss nicht länger fürchten, dass unzufriedene Bürger „zu den Kommunisten überlaufen“. So fehlt der Antrieb, für eine gleichgewichtige Gesellschaft zu sorgen. Die Folge ist, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich verbreitert. Vor 1989 war es undenkbar, einen Arbeitnehmer zwei Jahre vor seiner Pensionierung zu entlassen – auch wenn es die Gesetze zuliessen. Heute sind solche Kündigungen üblich. Überdies hat die Globalisierung den Wettbewerb verhärtet, er wurde rücksichtslos.
Urs Fitze:Wirtschaftsführer und Politiker führen gern ins Feld, die rücksichtslose Globalisierung zwinge sie zur Anpassung. Was halten Sie davon?
Roger de Weck: Die Globalisierung ist kein Naturereignis. Sie ist von Menschen gemacht. Am Anfang stand die Liberalisierung des Kapitalverkehrs. Seither fliesst Geld ungehindert dorthin, wo am meisten Gewinn winkt. Viel weniger mobil sind die Arbeitskräfte. Das steigert massiv die Macht der Kapitalgeber gegenüber den Arbeitnehmern. Und weil das Kapital auch dorthin schnellt, wo es am wenigsten besteuert wird, stehen die Staaten unter Zugzwang, die Steuern auf das Kapital zu minimieren. Das ist eine weitere Privilegierung des Kapitals. Gegen die Globalisierung habe ich nichts, aber sie sollte bewusst gestaltet werden.

Man hat das meiste, was Roger de Weck in seinem Buch vorträgt, schon gelesen. Aber es trifft den Puls einer Gesellschaft im Wandel. De Wecks Liberalismus ist ein Plädoyer für einen Kapitalismus, der sich am Gemeinwohl orientiert.

Roger de Weck. Nach der Krise. Gibt es einen anderen Kapitalismus? Verlag Nagel & Kimche. 17.90


Urs Fitze:Hat der Kapitalismus in den vergangenen 20 Jahren sein wahres Gesicht gezeigt?
Roger de Weck: Er hat hundert Gesichter, die Spanne reicht vom diktatorischen Staatskapitalismus in China bis zum sozialen Kapitalismus Skandinaviens. Gemeinsam ist allen die Vorstellung, dass es vor allem auf den Gewinn ankomme. Dabei liegt die eigentliche Aufgabe der Unternehmen darin, Güter zu erzeugen und Leistungen zu erbringen. Wenn die Maximierung der Rendite wichtiger wird als alles andere, gerät der Kapitalismus aus dem Lot. Dieses System, das unser Leben prägt, entfaltet eine ungeheure Kraft. Es gilt, sie zu bändigen. Der Markt bedarf einer Marktordnung, er braucht Regeln und einen Staat, der diese Regeln durchzusetzen weiss. Wenn die New Yorker Wall Street und die Zürcher Bahnhofstrasse das Sagen haben, läuft es aus dem Ruder. Wir brauchen keine liebesdienerischen Regierungen. Wir brauchen Politiker, die den Wirtschaftsführern auch einmal sagen: So nicht! Es ist wirtschaftsfreundlich, die Wirtschaft vor ihrem Hang zu Exzessen zu bewahren.
Urs Fitze:Braucht der Kapitalismus wieder ein Gegengewicht, wie es der Kommunismus war?
Roger de Weck: Gottlob sind die stalinistischen Regimes untergegangen. Umso stärker brauchen wir Gegenkräfte innerhalb des Systems, um seine Auswüchse zu verhindern.
Urs Fitze:Sie schreiben in Ihrem Buch „Nach der Krise. Gibt es einen anderen Kapitalismus?“ von Gier als Triebfeder, die zur Krise geführt hat. Ist Gier nicht Teil des kapitalistischen Systems?
Roger de Weck: Der Kapitalismus lebt vom Eigennutz, Gier aber ist ungezügelter Eigennutz. Erst in den vergangenen drei Jahrzehnten ist der Eigennutz vollends zur Gier ausgeartet – weil er zur Ideologie erhoben worden war. Eigennütziges Verhalten diene von vornherein der Allgemeinheit, hiess es, der Markt sei eine moralische Anstalt. Das war eine Lebenslüge. Was gut war für die UBS-Manager, war schlecht für die Schweiz.
Urs Fitze:Der Kapitalismus habe die Züge einer Religion angenommen, argumentieren sie weiter. Ist eine Religion fähig zur Reform?

Roger de Weck: Luther, Calvin und Zwingli haben das Christentum reformiert. Auch der Kapitalismus kann sich erneuern. In den 1970er Jahren war er gleichgewichtiger als heute. Er kann es wieder werden. Ich bin zwar illusionslos, aber hoffnungsfroh. Sonst hätte ich das Buch nicht geschrieben.
Urs Fitze:Sie verlangen eine öko-soziale Marktwirtschaft. Was verstehen Sie darunter?
Roger de Weck: Eine Marktwirtschaft, in welcher der Staat nicht einfach Spital und Reparaturwerkstatt ist. Die Marktwirtschaft braucht einen starken Staat, der das Verursacherprinzip durchzusetzen vermag. Riesenkonzerne, die auf keinen Fall konkurs gehen dürfen, weil es die Volkswirtschaft zerrütten würde, geniessen faktisch eine Staatsgarantie. Das ist ein Wettbewerbsvorteil, dafür sollen sie eine angemessene Gebühr zahlen. Gehen sie irrwitzige Risiken ein, muss ihnen der Staat als „Versicherer“ prohibitiv hohe Gebühren abverlangen. Überdies muss die Staatengemeinschaft nach und nach dafür sorgen, dass die Preise die Kosten des Naturverbrauchs enthalten. Dann werden etwa die Frachtkosten steigen und wird der Unsinn aufhören, dass wir Lamm aus Neuseeland einführen, statt wunderbares Lammfleisch aus dem Unterengadin zu essen.
Urs Fitze:Sehen Sie Ansätze zu einer solchen Wende im Kapitalismus?
Roger de Weck: Durchaus. Es sind letztlich die natürlichen Ressourcen, die unser aller Tun und Lassen begrenzen. Werden sie knapp, lautet die Alternative: Kooperation oder Krieg. Ich baue darauf, dass die Staatenwelt sich für Erstere entscheidet und einen Weg findet, die noch vorhanden Ressourcen gerecht zu teilen.
Die Gruppe der zwanzig grössten Staaten – so zaghaft diese G-20 agieren mag – sucht nach gemeinsamen Lösungen. Im 19. Jahrhundert wäre es längst zum Aufprall der Nationen und zum Krieg gekommen.
Urs Fitze:Sehen Sie auch eine moralische Wende in den Köpfen: die Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann?
Roger de Weck: Ich glaube weniger an die Kraft der Moral als an straffe Regeln. Was wir brauchen, ist ein neues Gleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Staat und Wirtschaft, zwischen Eigennutz und Gemeinsinn, zwischen Nord und Süd.

Quelle: nachhaltigkeit.org - 1. Februar 2010