Samstag, 13. März 2010

Freier Markt ist Theologie

Kapitalismus ist eine Religion – wobei nur eine Kyrptoreligion oder Spätform, die instrumentalisiert und missbraucht wird. Der scheidende Ethik-Professor Ulrich äusserte sich auf Schweizer Fernsehen.

«Ethik ist eine Reflexionsform – und in diesem Sinn hat es sich gelohnt, entsprechende Gedanken tausenden von Absolventen der HSG mitzugeben.» Wirtschaftsethik ist dann ein Stück nachholende Aufklärung in einem Bereich, der das noch dringend nötig hat – so Eberhard Ulrich nach seiner Abschiedsvorlesung, reflektiert mit Roger de Weck auf SF 1. Mehr Markt, Marktgläubigkeit, Marktkoordination hat kein eingebautes Harmoniepotential – eine Annahme, die daher rührt, der ungeregelte Markt sei eine natürliche Ordnung und diese eine Schöpfung Gottes, der die Natur weise eingerichtet habe – ergo werde alles gut, wenn wir alles der Selbststeuerung der Marktkräfte überlassen. Wer hingegen eingreifen will, gilt als Ketzer dieser markttheologischen Sicht.

Gescheitert ist die andere Koordination natürlich auch, jene des Plans, zu verstehen aus der Konstellation des kalten Krieges. Resultat waren sozialpolitische Zugeständnisse, in denen Bevölkerung nicht aufbegehrte gegen Wirkung einer entfesselten Marktsteuerung. Nach 1989 kam es zum Triumpfgeheul des sich siegreich wähnenden Kapitalismus. Ulrich warnte allerdings schon damals, dass beide gleich alt seien, Kommunismus wie Kapitalismus, beide waren ihm damals schon Metaphern, also metaphysische, übernatürliche Glaubenssystemen – die an realen Ereignissen nicht scheitern konnten.

Marktwirtchaft ist eine rechtsstaatliche Veranstaltung – das spezifiziert noch keine Wirtschaft – dass Markt gebraucht wird, ist trivial, aber es gibt viele Varianten. Es braucht immer intelligenten Mix von Marktsteuerung und rechtstaatlichen Bedingungen sowie Anreizstrukturen. Dazu kommt eine Gesellschaft, die zwischen Wirtschaft und Gesellschaft unterscheiden kann. Arbeitslosigkeit und wachsende Ungleichheiten kennzeichnen letztere, und sind durch erstere nicht zu lösen – obwohl links wie rechts glauben, es gebe wirtschaftliche Antworten. Vielmehr bräuchten diese gesellschaftspolitischen Probleme auch gesellschaftspolitische Lösungen.

Marktwirtschaft funktioniert an sich ausgezeichnet, Folgeprobleme sind das Resultat einer Erfolgsgeschichte durch Rationalisierungsdynamik unter gegebenen Bedingungen führt zur Wegrationalierung von Arbeit. Kein Wirtschaftsführer beabsichtige, Arbeitsplätze zu schaffen «Glauben Sie diesbezüglich keinem!», so Ulrich in seinem Gespräch. Arbeitsplätze sind Kosten, die es zu minimieren gilt. Ziel ist Eigenkapitalrendite. Entsprechend, so de Weck in einem launischen Einwurf, heisst es ja auch nicht Laborismus, sondern Kapitalismus. Mit Markt hat das aber rein gar nichts zu tun.

Wirtschaftliche und politische Liberalisierung gingen ursprünglich Hand in Hand, im Laufe des 19. Jahrhunderts ging das einen anderen Weg – in dessen Mitte ein ungeheurer Boom mit enormem Wohlstandsgewinn. An dessen Ende tauchte die soziale Frage auf (1870), denn die Armut für alle war nicht beseitigt mit einem erfolgreichen Bürgertum und auf der anderen Seite mit dem Proletariat oder zeitgemässer mit dem Prekariat, Menschen, die in prekären Lebenslagen mit tiefgreifender existentieller Verunsicherung. Damals war das Bürgertum eine progressive Macht, die NZZ eine linke Zeitung. Sollte das Projekt an Freiheit für Alle festhalten oder erworbene Privilegien bewahren – wofür sich das Bürgertum entschied. Das emanzipatorische Projekt einer Bürgergesellschaft für Alle war damit den Linken vorbehalten.

In dieser Zeit entstanden unter Bismark die ersten Sozialversicherungen. Diese frühe Form einer sozialen Marktwirtschaft hatte allerdings einen Geburtsfehler: Der Sozialstaat sollte im Nachhinein die Symptome lindern und korrigieren als Reperaturbetrieb. An Ursachen hat man bis heute nichts geändert. Gibt es also ein System, in dem die soziale Frage mitschwingt. Nicht nach einem System ist zu suchen, das das realisiert im Sinne eines Mechanismus, der automatisch dafür sorgt, alle gesellschaftlichen Koordinationsprobleme perfekt zu lösen. Wir sollten vielmehr gelernt haben, dass erstens ein intelligenter Mix von Markt und Staatssteuerung unverzichtbar ist, dass zweitens das so konzipierte System der Einbettung in eine modernen Gesellschaft bedarf – dort sind die Hauptprobleme.

Vordergründig hat sich das mw-System in Eigensinn und Unsinn verselbständigt. Das ist aber nicht grundlos geschehen. Warum haben die Menschen denn diese Entkoppelung gebilligt. Dahinter steht ein Gedankenbett: Noch die ärgsten Marktideologen müssen davon überzeugt sein, das sei eine legitime Wirtschaftsordnung – die meisten sind marktgläubig und setzen voraus, dass der Staat diese Deregulierung machtvoll durchsetzen kann. Also auch die Liberalen vertrauen auf den Staat! Ein solches System muss etabliert sein, durchgesetzt werden mit Eigentums-, Haftungs- und Vertragsrechten. Unter ihrer Ägide ist die Rolle des Staates oft sogar explosionsartig gewachsen.

Der sozialdemokratische Kompromiss schien nach 1989 nicht mehr nötig, also durfte Kapitalismus hemmungsloser werden. Das ebnete dem Neoliberalismus den Boden. Nun nach 25 Jahren dieses Zeitgeists scheint er am Ende der Fahnenstange angekommen zu sein. Die Entbettung der Wirtschaft findet allerdings nicht staat, sondern gemäss de Weck eher die Übernahme der Gesellschaft durch die Wirtschaft. Der Hilfsbedürftige wird zum Klienten, zum Marktobjekt des Sozialarbeiters. Der wird damit nur vermeintlich geadelt. Diese Verkehrung der Verhältnisse, die Ökonomisierung von fast allem, allen Lebensbereichen und der ganzen Welt (Globalisierung), der Politik, die zum Verwalter der Sachzwänge wurde, die die Marktwirtschaft geschaffen hat. Der Standortwettbewerb, der immer auch ein Ordnungswettbewerb ist, hat das Seine dazu beigetragen.

Wettbewerb ist vielleicht auf politische Einheiten gar nicht anwendbar. Der Primat der Politik ist die vernünftige Vss. für jede Gestaltbarkeit der Wirtschaftsordnung, nur das ist vernünftig. Hat nicht dennoch das Geld immer die Macht, so de Weck? Entgegenhält Ulrich die Rolle der Ethik. Sie hat sicher nicht die Macht , Verhälntnisse zu ändern, nur Begriffe zu klären. Marktsteuerung ist nicht per se gut, weil Markt machtvoll ist als Beispiel. Denn er bildet Machtverhältnisse im Idealfall ab, jeder kann gut verhandeln, aber mehr liegt nicht drin. Die Mächtigen sind deshalb immer f¨ür Deregulierung, die Schwächeren reagieren skeptisch. Ausgleich ist zu suchen, wir brauchen dafür eine zivilisierte Marktwirtschaft, deren gutes Funktionierne gemessen wird, die sie für die civil society leistet. Freie und gleichberechtigte Bürger, ein urschweizerisches Ideal, das uns abhanden gekommen ist.

Wie kommen wir dorthin. Der Ethiker gibt durchaus Antworten: Eine gute Wirtschaftsordnung fällt nicht vom Himmel, also trägt jemand Verantwortung. In einer modernen Gesellschaft bilden die Bürger den Kern. Sie stehen vor Herausforderung, auch im Wirtschaftsleben den gleichen Bürgersinn gelten zu lassen, der sonst als normal gilt. Also das Nutzenstreben nicht abspalten, sondern integrieren. Demokratie und MW als Gegensatz also? Nein, wir sind einfach noch zu stark von Ideologien geprägt. Denn es ist nicht schwer klar zu machen, dass Lebensqualität sich nicht in Konsum erschöpft. Freiheit heisst nicht Konsumfreiheit, also herrscht Zuversicht, dass moderne Bürger ihre Rechte als zentral anschaut und nicht einfach Konsum.

Aber gerade HSG-Absolventen gehen doch diesen Weg? Der Einfluss der Uni hält sich in Grenzen vielmehr. Und es hat alle Arten von Denkmustern – vielleicht hat sich im Laufe der Jahre was verschoben. Die Jungen heute mit ihrer Offenheit übernehmen alte Doktrinen nicht einfach so (Wüstenhagens Erfolg). Aber wie im Velorennen gibt es Vorhut und Nachzügler. Wer heute das Sagen hat, repräsentiert die alte Denke. Die HSG hat immerhin Kontextstudium eingefügt mit grösserem Rahmen im Studium – 25% der Credits in geistes- und sozialwiss. Studiums zu erwerben – gegen das Fachidotentum.

Schon Sik hat nach drittem Weg gesucht, war aber Einzelgänger. Immer nur ein Mauerblümchen? Das stimmt so nicht mehr, ein Drittel der ProfessorInnen denken wie der hausinterne Wirtschaftsethiker. Vielleicht herrscht da auch selektive Wahrnehmung ausserhalb. Gerade Staatsrechtler haben noch Sinn für die Rangordnung der Dinge. Zuerst die Ethik, dann die Politik, dann erst die Ökonomie. Andernorts ist das natürlich anders. Moralphilosoph war auch Adam Smith. Von Fachökonomen wird immer nur der halbe Smith gelesen (Vom Wohlstand der Nationen). Er wurde Ökonom, weil er ein Problem der Moralphilosophie nicht lösen konnte. Wie das richtige tun?

Eine Marktgesellschaft ist der Feind des legitimen Marktes. Vielmehr muss MW eingebunden sein in Gesellschaft, die Risiko so mindern kann. Weniger Markt kann heissen mehr Gleichheit, geringere Blasenrisiken – das sind gesellschaftliche Ziele. Röpke sagte auch als Marktwirtschafter, Liberalismus ist nicht primär wirtschaftlich – sondern gesellschaftlich . Siehe Dänemark: Niemand soll aus gesell. Rahmen herausfallen, dann wird Markt entfesselt. Trotz hoher Staatsquote hoch wettbewerbsfähig, Flexicurity. CH ist mittlere Form mit ihrem basisdemokratischen Denken, das sich teils positiv niedersclhägt etwa in AHV, die eine Art Bürgerversicherung ist mit ihrer Minimalrente, die Hälfte des Maximums ist. «Solche stark bürgerrechtliche Traditionen sollten wir aus- nicht abbauen.»

Inti hier

Abschiedsvorlesung bei: Ulrich

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