Montag, 20. September 2010

Ein Grundeinkommen muss her

Der deutsche Drogerie-Unternehmer und Milliardär Götz Werner über das Recht auf Arbeit, ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle und seine Bewunderung für Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler

Ausschnitt aus Interview von Philipp Löpfe in SonntagsZeitung vom 19.9.2010

Konstanz am Bodensee in Deutschland: Auf einer kleinen Insel neben dem Hafen steht das 4-Sterne-Hotel Steigenberger. In der Bar hat Götz Werner einen Tisch für das Interview reserviert. Er erscheint pünktlich, lässig gekleidet und in bester Laune.

In der Hand hält er ein Exemplar seines soeben erschienenen Buches «1000 Euro für jeden». Darin macht sich Werner dafür stark, dass jeder, egal ob Frau oder Mann, Rentner oder Kind, vom Staat ein bedingungsloses Grundeinkommen erhält, das ihm ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Ohne zu arbeiten.

Ist der Mann übergeschnappt? Für die Schweiz würde das beispielsweise bedeuten, dass sich die Sozialausgaben mehr als verdoppeln würden. Das zeigt eine einfache Rechnung: 7,8 Millionen Einwohner mal 3000 Franken Grundeinkommen pro Monat ergibt Kosten von rund 280 Milliarden Franken. Derzeit liegen die gesamten Sozialausgaben bei rund 120 Milliarden Franken.

Sicher ist: Götz Werner kann rechnen. Er ist Milliardär und einer der erfolgreichsten Unternehmer Deutschlands. Als Vater von sieben Kindern steht er mit beiden Beinen im Leben. Gern weist er darauf hin, dass einer der Väter der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens der neoliberale Ökonom Milton Friedman war. Für die Finanzierung des Modells schlägt Werner eine massive Erhöhung der Mehrwertsteuer vor.

Götz Werner, das bedingungslose Grundeinkommen gilt zwar als sympathische, aber auch sehr naive Idee. Jetzt wollen Sie es ausgerechnet in der schwersten Wirtschaftskrise seit den 1930er-Jahren einführen. Warum?

Die Produktion läuft, die Kunden sind da. Wir haben gar keine Wirtschaftskrise, wir haben eine Finanzkrise, die leider stimmungsmässig als Wirtschaftskrise empfunden wird.

Wo liegt da der Unterschied?

Die Finanzmärkte haben eine Eigendynamik entwickelt und sich von der realen Wirtschaft abgekoppelt. Da liegt das Problem. Wir müssen die Finanzmärkte wieder an die Kette legen.

Ob Finanz- oder Wirtschaftskrise, die Losung lautet: sparen, sparen, sparen.

Die Finanzkrise wirkt wie eine Blendgranate, die die Menschen verwirrt. Sie verstellt den Blick auf die wahren Probleme, die wir haben. Das gilt es aufzuklären.

Wovon genau lenkt diese Blendgranate ab?

Dass die Wirtschaft die Aufgabe hat, den Menschen mit Gütern und Dienstleistungen zu versorgen.

Das bestreitet niemand.

Aber nicht alle realisieren, dass wir heute in einer Konsumgesellschaft leben. Das bedeutet, dass wir keine Selbstversorger mehr sind, sondern darauf angewiesen, dass andere für uns produzieren. Deshalb brauchen wir ein sicheres Einkommen, damit wir die Leistungen der anderen auch kaufen können. Und daher ist das Einkommen die Voraussetzung, um in dieser Konsumgesellschaft leben zu können.

Der gesunde Menschenverstand sagt: Dieses Einkommen muss man sich erarbeiten. Was ist daran falsch?

Es entspricht nicht mehr der Realität. In Deutschland besteht das Einkommen von rund 60 Prozent der Menschen aus Transferleistungen.

Heisst das: Wir haben schon eine Art Grundeinkommen, wir wissen es nur nicht?

Ja, die Schweizer AHV beispielsweise ist ein Grundeinkommen, allerdings ein bedingtes. Sie beruht auf der Idee, dass wir alte Menschen nicht einfach verhungern lassen können. Das, denke ich, ist eine in der Gesellschaft allgemein akzeptierte Vorstellung.

Ihr bedingungsloses Grundeinkommen ist somit nur die konsequente Weiterführung eines bewährten Modells?

So kann man es sehen. Es ist die konsequente Weiterführung von dem, was mit dem Sozialstaat begonnen hat. Den hat der damalige deutsche Kanzler Otto von Bismarck schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt. Nur lebten damals noch 60 Prozent der Menschen von der Landwirtschaft. Heute ist das völlig anders. Wir sind total davon abhängig geworden, dass andere uns versorgen. Die Gesellschaft hat einen - wie man es wissenschaftlich ausdrückt - Paradigmenwechsel vollzogen.

Konkret?

Nehmen wir das Interview, das Sie jetzt führen. Es setzt voraus, dass Sie ein Einkommen haben.

Was würde sich an diesem Interview ändern, wenn ich ein bedingungsloses Grund- einkommen hätte?

Das würde Sie in die Lage versetzen zu sagen: Will ich dieses Interview überhaupt führen? Ist es überhaupt sinnvoll, mich mit diesem Idealisten Götz Werner zu unterhalten? Und dann noch über ein Thema, das ich für völlig unproduktiv halte. Ohne Grundeinkommen hingegen sagen Sie sich: Dann mach ich halt dieses Interview, ich brauche das Geld. Mit anderen Worten: Ein bedingungsloses Grundeinkommen macht die Menschen frei.

Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde mir auch ermöglichen, überhaupt nicht zu arbeiten.

Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen Menschen angetroffen, der den ganzen Tag nichts anderes tun will als herumzusitzen. Der Mensch ist ja ein initiatives Wesen. Er will etwas und ist getrieben von Ehrgeiz: schneller, höher, immer was Neues. Mit dem Grundeinkommen können wir ganz einfach das tun, was wir wirklich wollen. Deshalb bezeichne ich es manchmal auch als den Punkt, mit dem man die Welt aus den Angeln heben kann: Wir bewegen uns vom Sollen zum Wollen.

Sind Sie nicht ein hoffnungsloser Idealist, der die Realitäten vollkommen verkennt? Der Mensch ist doch faul und muss zur Arbeit gezwungen werden.

Mit dieser Einstellung könnten Sie nie ein Unternehmer sein.

Warum nicht?

Wenn Sie mit anderen Menschen zusammenarbeiten wollen, dann müssen Sie ihnen auch etwas zutrauen. Wenn Sie wie ich rund 35 000 Menschen beschäftigen, dann kann ich denen doch nicht unterstellen, dass sie in Wirklichkeit faul sind. Wer dies tut, beobachtet die Welt nicht. Ohne Vertrauen funktioniert ein Unternehmen nicht. Auch Sie haben darauf vertraut, dass ich pünktlich zum Interview erscheine.

Werden Sie nie von Menschen enttäuscht?

Doch, natürlich, immer wieder sogar. Damit muss man leben können. Aber es ändert nichts an der Maxime: Zutrauen veredelt den Menschen.

Setzen Sie diese hehren Ideale auch in Ihrer Firma um?

Natürlich, es geht doch nur, wenn man den Menschen auch etwas zutraut.

Sie geben Ihren Mitarbeitern also grosse Selbstständigkeit und viele Freiheiten.

Ja, und je glaubwürdiger ich es tue, desto besser sind die Resultate. Wenn die Menschen nur das machen, was man ihnen befiehlt, dann nützen sie die Gelegenheiten, die sich ihnen vor Ort bieten, gar nicht aus. Nur wenn man den Menschen Freiheitsräume gewährt, werden sie kreativ.

Haben Ihre Mitarbeiter bereits ein bedingungsloses Grundeinkommen?

Als einzelner Unternehmer kann ich das gar nicht verwirklichen, das geht nur volkswirtschaftlich. Aber jeder Mitarbeiter hat ein festes, sicheres Einkommen. Bei uns gibt es keine Prämien. Wir halten uns an die Tarifverträge der Sozialpartner. Unser Bestreben ist es jedoch, dass wir höhere Löhne zahlen können, sofern der Wettbewerb es zulässt.

In welchem Land könnten Sie sich ein bedingungsloses Grundeinkommen vorstellen?

Leider bin ich kein Schweizer Staatsbürger. Ich würde mich sonst sicher sehr intensiv dafür einsetzen, eine Volksinitiative zu starten. Ich glaube, dass gerade für diese Frage das Bewusstsein des Schweizervolkes prädestiniert ist.

Sie sind ein knallhart kalkulierender Unternehmer. Was fasziniert Sie am bedingungslosen Grundeinkommen?

Mein Engagement stammt aus meinen Erfahrungen als Unternehmer. Das hat mich gelehrt, dass ich nicht die Arbeit bezahle. Arbeit ist unbezahlbar.

Wofür bezahlen Sie also Löhne?

Damit die Mitarbeiter bei DM arbeiten können! Es ist die Teilhabe, um teilnehmen zu können.

Wie sind Sie Unternehmer geworden?

Ich bin ein Autodidakt und habe Drogist gelernt, weil das in der Familie lag. Mein Urgrossvater war schon Drogist. Ich habe vor 37 Jahren DM Drogeriemarkt mit einem Laden gegründet und allmählich ausgebaut. Die Lebenserfahrung als Drogist und Unternehmer hat mir die Einsicht vermittelt, dass wir ein Grundeinkommen brauchen. Nicht als Dogma, sondern als Idee, um den Menschen die Augen zu öffnen.

Sie selbst sind damit gut gefahren. Sie gelten als Milliardär und einer der reichsten Männer Deutschlands.

Ich kann mich nicht beklagen.

Haben Sie auch Vorbilder?

Ich bin ein grosser Bewunderer des Migros-Gründers Gottlieb Duttweiler. Er wäre heute sicher auch ein Vertreter eines bedingungslosen Grundeinkommens.

Weshalb?

Jeder gute Händler weiss, dass seine Kunden Geld im Portemonnaie haben müssen, damit sie etwas kaufen können. Man kann es allgemeiner ausdrücken: Jeder, der eine Leistung erbringt, sorgt sich darum, dass man ihm diese Leistung auch abkaufen kann.

Die Gegner des Grundeinkommens haben jedoch Angst, dass keine Leistung mehr generiert wird, wenn das Einkommen gesichert ist.

Das kommt davon, wenn man in falschen Paradigmen denkt. Paradigmen sind nichts anderes als verfestigte Vorurteile.

Aber es ist doch so, dass es in modernen Gesellschaften eine Unterschicht gibt, die - höflich ausgedrückt - nicht unbedingt leistungsorientiert ist.

Faule Menschen gibt es an beiden Enden der Gesellschaft. Es gibt das, was man gemeinhin Jetset nennt, und es gibt Menschen, die sich nicht in die Gesellschaft integrieren können. Die Gesellschaft lebt von ihrer fleissigen Mitte. Das war schon immer so.

Entwerten Sie mit Ihrem Grundeinkommen nicht die Arbeit dieser fleissigen Mitte?

Ganz im Gegenteil. Ich adle diese Arbeit. Nicht nur als Drogist bin ich sehr dafür, dass die Menschen gesund leben und gesund essen. Nur dann können sie nämlich auch ordentliche Arbeit leisten. Beim Grundeinkommen geht es ganz und gar nicht um die Abschaffung der Arbeit.

Sondern?

Dass wir begreifen, dass wir keine Gesellschaft von Selbstversorgern mehr sind. Wir leben von der Leistung anderer, nicht von unserem selbst verdienten Geld.

Wozu arbeiten wir dann?

Für die Wertschätzung. Sie machen dieses Interview für die SonntagsZeitung, weil Sie sich mit dieser Zeitung identifizieren können. Auf Dauer können Sie diese Arbeit nur machen, wenn Sie genügend Menschen finden, die dafür auch Wertschätzung aufbringen und die Zeitung kaufen.

Man könnte einwenden, Journalisten seien privilegiert. Nicht jede Arbeit erhält Wertschätzung.

Jeder Mensch hat seine eigene Sinnkonstellation. Die Frage ist nicht: Was für eine Arbeit verrichtet er? Sondern: Wie weit kann er sie selbst bestimmen? Je weniger er dies kann, desto weniger sinnvoll erscheint sie ihm.

Es gibt doch in jeder Gesellschaft einfach unangenehme Arbeiten, die gemacht werden müssen. Was ist damit?

Die Formulierung ist falsch. Korrekt heisst es: Es gibt Arbeiten, von denen wir wünschen, dass andere sie für uns verrichten. Dafür haben wir verschiedene Möglichkeiten.

Wir machen die Arbeit selbst?

Das ist die dritte Möglichkeit. Die erste: Wir schaffen einen attraktiven Arbeitsplatz. Die zweite: Wir automatisieren diese Arbeit. Andere Möglichkeiten gibt es nicht, glauben Sie mir. Ich denke schon lange über dieses Problem nach.

Angenommen, Sie überzeugen die Menschen von Ihrer Idee. Deutschland und die Schweiz führen ein bedingungsloses Grundeinkommen ein. Kommen dann nicht alle Faulen zu uns, um davon zu profitieren?

Menschen verlassen ihre Heimat in der Regel nicht freiwillig, sondern sie fliehen vor Hunger, Krieg und Naturkatastrophen. Und ich kann ja heute als Deutscher auch nicht einfach in die Schweiz ziehen und Anspruch auf AHV anmelden. Bereits heute muss doch definiert werden: Wer gehört zu uns und wer nicht. Im Übrigen hat es auch keinen Massenansturm auf Deutschland gegeben, als die bismarckschen Sozialgesetze eingeführt wurden.

Zurück zur Krise, in der wir uns befinden: Heute herrscht ein allgemeines Gefühl, dass wir in einer Wendezeit leben.

Als Unternehmer lebe ich immer in einer Wendezeit.

Aber heute haben auch viele normale Menschen dieses Gefühl. Was kann ein bedingungsloses Grundeinkommen da bewirken?

Einstein hat einmal gesagt: Wir können die Probleme nicht mit den Methoden lösen, mit denen sie entstanden sind. Genau in dieser Situation sind wir heute im Sozialen. Wir versuchen die Probleme von heute mit den Methoden von gestern zu lösen. Immer mehr Menschen spüren, dass dies nicht geht.

Woran denken Sie konkret?

Beispielsweise an die Vollbeschäftigung. In der Politik lautet eine beliebte Phrase: Arbeitsplätze sichern. Das ist Unsinn. Arbeit muss man erledigen, nicht sichern. Aus dem falschen Paradigma der Vollbeschäftigung kommt solcher Unsinn wie: Recht auf Arbeit. Gleichzeitig werden ganz andere Tendenzen ganz einfach ausgeblendet, dass wir beispielsweise in Sachen Grundeinkommen schon sehr weit sind.

Sie betonen immer wieder, wie wichtig der Sinn der Arbeit ist. Besteht da nicht die Gefahr, dass alle Menschen nur noch künstlerisch tätig sein wollen und niemand mehr diese Basisarbeit verrichten will?

Was, bitte, verstehen Sie unter Basisarbeit?

Die Arbeit, die etwa Bauern oder Maurer verrichten.

Die Basis unserer Arbeit ist die Kultur. Wenn es uns gelingt, für das, was Sie als Basis bezeichnen, Maschinen zu erfinden, dann wäre das doch wunderbar. Da sind wir ja bereits auf gutem Wege. Von der direkten Arbeit an der Natur haben wir uns weitgehend befreit. Wo wir hingegen einen grossen Mangel haben, ist in der mitmenschlichen Arbeit, in der Pflege, im Schulwesen.

Arbeitslose Künstler gibt es ebenfalls reichlich.

Die sind überhaupt nicht arbeitslos. Die malen Bilder oder führen Theaterstücke auf, aber sie erhalten dafür keine Wertschätzung. Genauso wie wir die Arbeit von Müttern zu wenig wertschätzen.

Da sind Sie Experte. Sie haben immerhin sieben Kinder.

Und ich bin stolz darauf. Um zu provozieren, pflege ich in Vorträgen gelegentlich zu sagen: Arbeitest du, oder kümmerst du dich als Mutter zu Hause um deine Kinder? Darin zeigt sich das Problem unseres Arbeitsbegriffes.

Angenommen, es gelingt, die hässliche Arbeit weitgehend von Maschinen erledigen zu lassen. Wie sieht dann diese postindustrielle Gesellschaft aus?

Die alte Arbeit orientiert sich an der Umgestaltung der Natur, die neue Arbeit an der Pflege der Menschen.

Werden wir uns dann gegenseitig die Haare schneiden und uns Lieder vorsingen?

Richtig. Jubellieder singen, um genau zu sein.

Wird das nicht irgendwann ein bisschen langweilig?

Langweilig ist doch, wenn ich jeden Tag Blech auf die gleiche Art verformen muss. Interessant wird es, wenn wir uns zusammentun und die Welt erforschen oder die Menschen erfreuen. Ich wurde auch schon gefragt: Soll Deutschland von Hölderlin-Gedichten leben? Wenn es dafür einen Markt gibt, warum nicht?

In Ihrem Buch vergleichen Sie die aktuelle Gesellschaft mit der Zeit vor der Französischen Revolution. Erwarten Sie einen Umsturz?

Wie damals kümmert sich die Elite der Gesellschaft nicht mehr um die Nöte der breiten Bevölkerung. Es ist wie zu Zeiten der Marie Antoinette, die zynisch gesagt haben soll: Wenn die Menschen kein Brot haben, dann sollen sie halt Kuchen essen.

Rechnen Sie ernsthaft mit einer Revolution?

Wenn die Elite nicht zur Einsicht kommt, dann muss sie irgendwann mit rabiaten Methoden rechnen.

Ist so gesehen das Grundeinkommen eine Art unblutige Revolution?

Ich würde eher sagen: Es ist eine Evolution, die man aus Einsicht macht.

Publiziert am 19.09.2010
von: sonntagszeitung.ch

Donnerstag, 2. September 2010

Staatsverschuldung ohne Alternative

In 23 reichen Länder ist die Staatsverschuldung bedrohlich angestiegen. Der Internationale Währungsfonds warnt dennoch vor Überreaktionen an den Finanzmärkten. Kein Grund zur Panik an den Märkten, sagt der IWF: Händler an der Wall Street. Der Autor von TA-Online bringt einen wichtigen Aspekt der Verschuldung auf den Punkt.

Seit der Krise in Griechenland gehört die Angst vor Staatsbankrotten zum Standardrepertoire der Untergangspropheten. Für sie sind Hyperinflation und soziale Unruhen nur noch eine Frage der Zeit. Tatsächlich sind die Schulden der öffentlichen Hand in den meisten Industriestaaten massiv angestiegen. In Griechenland werden sie bis 2013 voraussichtlich 150 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) betragen. Andere Club-Med-Staaten wie Portugal und Italien, aber auch Irland geht es nur wenig besser. Das zeigen neue Studien des IWF. Selbst in Grossbritannien und den USA wird die Verschuldung langsam unheimlich: Bis 2015 wird sie 91, beziehungsweise 110 Prozent des BIP betragen.

Trotzdem warnt der IWF vor einer übertriebenen Angst. «Die Märkte überschätzen das Risiko eines Staatsbankrottes», sagt einer der Verfasser der Studie, Paulo Mauro. Er verweist dabei auf acht ähnliche Beispiele in den letzten 20 Jahren, wo es hochverschuldeten Staaten gelungen ist, ihre Staatsfinanzen ohne Umschuldung zu sanieren. Die Frage, wie viele Schulden ein Staat verkraften kann, ist nicht eindeutig zu beantworten. Japan, das am höchsten verschuldete Land der Welt, lebt seit Jahrzehnten mit seiner Schuldenlast. Es ist dabei nicht auf fremde Hilfe angewiesen, weil die Japaner ihre Schulden selbst mit ihren Spargeldern finanzieren. Und Japan lebt damit gar nicht so schlecht. Es ist zwar richtig, dass das Wachstum der Wirtschaft absolut gesehen seit Jahren bescheiden ist und das Land unter einer leichten Deflation leidet. Doch in Japan nimmt die Bevölkerung bereits ab. Rechnet man das Wirtschaftwachstum auf die entscheidende Grösse um, nämlich pro Erwerbstätigen, dann steht Japan in den letzten Jahren besser da als beispielsweise Deutschland und fast so gut wie die USA.

Die Staatsschulden der reichen Staaten werden noch zunehmen, denn es sind nicht die unmittelbar beschlossenen Konjunkturprogramme, die sie primär verursachen, sondern die Langzeitfolgen. Die beiden Ökonomen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff haben in ihrem Buch «This Time is Different» die wichtigsten Wirtschaftskrisen und ihre Folgen untersucht. Sie kommen zum Ergebnis, dass nach einer Bankenkrise die Staatsverschuldung immer zunimmt, und zwar massiv. «Durchschnittlich nehmen die realen Staatsschulden in den drei Jahren nach einer Bankenkrise um 86 Prozent zu», stellen sie fest. «Die fiskalischen Konsequenzen, die direkte und indirekte Kosten beinhalten, sind viel teurer als die Kosten für das Bail-out.»

Staatsschulden soll man nicht verniedlichen und langfristig ist eine gewisse Inflationsgefahr nicht zu leugnen. Doch Panik ist fehl am Platz. Trotz der hohen Schulden und der Erwartung, dass sie kurzfristig nochmals steigen werden, sind die Zinsen für US-Staatsanleihen auf einem Rekordtief. Zudem: Was wäre die Alternative? Ein knallharter Sparkurs mit dem Versuch, das Budget auszugleichen, hat in den 1930er Jahren in die Grosse Depression geführt. Auch heute ist die Vorstellung absurd. Oder wie es Martin Wolf, Chefökonom der «Financial Times» ausdrückt: «Ich finde die Idee bizarr, den grössten Teil des Finanzsystems einstürzen zu lassen, unkonventionelle Geldpolitik zu vermeiden und das Staatsdefizit so gering wie möglich zu halten – und das als Voraussetzung für einen schnellen und nachhaltigen Aufschwung zu betrachten.»

Quelle: (Tagesanzeiger.ch/Newsnetz)