Montag, 15. August 2011

Kapitalismus zerstört sich selbst

Die Ungleichgewichte zwischen Superreichen und Mittelstand in den westlichen Industriestaaten werden zu einer Gefahr für Marktwirtschaft und Demokratie. Es gibt nur ein Rezept - Umverteilung nach unten mit erhöhten Steuern für die Reichen.

TA-Wirtschaftskolumnist Philipp Löpfe hat sich gut in den internationalen Medien umgesehen und beobachtete unter anderem: «US-Konzerne horten Geld», schreibt die «NZZ» im Wirtschaftsteil und fügt dann eine eindrückliche Liste an, welche Firmen auf wie grossen Geldbergen sitzen. Um eine lange Geschichte kurz zu machen: US-Unternehmen horten derzeit rund 2000 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Das Bruttoinlandprodukt der USA im Jahr 2010 betrug rund 14 Billionen Dollar, also rund siebenmal soviel. «Amerikanische Firmen haben so viel Geld in ihren Kassen wie noch nie zuvor», stellt die «NZZ» lakonisch fest.

In der «New York Times» stellte gleichentags der legendäre Investor Warren Buffett heute ebenfalls eine Rechnung an: «Die Superreichen zahlen 15 Prozent Steuern auf dem grössten Teil ihres Einkommens und sie zahlen praktisch keine Lohn-Nebenkosten», schreibt er. «Ganz anders sieht die Lage für die Mittelschicht aus: Sie zahlt typischerweise zwischen 15 und 25 Prozent Steuer auf ihrem Einkommen und dazu gesellt sich zusätzlich eine kräftige Portion Lohn-Nebenkosten.» Die Superreichen sind in den letzten 20 Jahren gemäss Buffett extrem gut gefahren. Seit 1992 hat sich ihre Steuerbelastung von durchschnittlich 29,2 Prozent auf 21,5 Prozent verringert, obwohl sich das steuerbare, jährliche Einkommen der 400 Reichsten auf unglaubliche 227,4 Millionen Dollar im Durchschnitt erhöht hat.

In einem Video-Interview mit dem «Wall Street Journal» analysiert der Star-Ökonom Nouriel Roubini (siehe Bild) den Zustand der westlichen Industriestaaten. Wegen einer massiven Umverteilung des Wohlstandes zugunsten der Superreichen sei die Nachfrage in den westlichen Industriestaaten zusammengebrochen. Der Einbruch sei so dramatisch, dass wir Glück gehabt hätten, nicht bereits jetzt in eine Depression abgerutscht zu sein, sagt Roubini und prophezeit im besten Fall lange Jahre einer schmerzhaften Stagnation.


In den letzten Wochen haben sich die Erwartungen an die Zukunft der Ökonomen dramatisch verändert. Die neue Einschätzung lautet: Die USA stehen unmittelbar vor einem Rückfall in die Rezession, einem Double Dip, in Europa wird das Wirtschaftswachstum ebenfalls zum Stillstand kommen. Nicht nur die üblichen Problemländer verharren in ihrem Schlamassel. Auch in Frankreich herrscht de facto Null-Wachstum, der deutsche Wirtschaftsboom ist bereits vorbei. Allein im Juni ist die industrielle Produktion der Eurozone gegenüber dem Vormonat durchschnittlich um 0,7 Prozent eingebrochen. «Wir haben eine neue Gefahrenzone betreten», warnt auch der Präsident der Weltbank, Robert Zoellick.

Vereinfacht gesagt sieht die Lage der westlichen Industriestaaten derzeit wie folgt aus: Konzerne und Superreiche haben in den letzten Jahrzehnten ungeheure Vermögen angehäuft und profitieren heute von tieferen Löhnen, billigem Geld und sinkenden Steuern. Der Mittelstand hingegen blutet aus: Die Löhne sinken, die Wohnkosten und die Steuerbelastung steigen. Das Resultat ist eine einbrechende Nachfrage, die im Begriff ist, in eine Verelendungsspirale zu münden. Dieses Phänomen ist Ökonomen bestens bekannt, sei es als «Liquiditätsfalle» oder als «Balance Sheet Recession».

Vermeintliche Freunde des Kapitalismus, Liberale und Konservative, wollen mit Sparen und Steuersenken der Liquiditätsfalle entrinnen. Das kann unmöglich zum Erfolg führen. Wie soll bei fallenden Löhnen und steigender Arbeitslosigkeit Nachfrage entstehen? Und weshalb sollten Unternehmen investieren, wenn keine Nachfrage besteht? Der Weg aus der Liquiditätsfalle sieht anders aus: Kurzfristig muss mit sinnvollen Investitionsprogrammen in Infrastruktur und Bildung Nachfrage geschaffen werden, um Massenarbeitslosigkeit und Deflation zu verhindern. Gleichzeitig muss der Lohnzerfall der Mittelschicht gestoppt werden. Um zu verhindern, dass die Staatsschulden ausser Kontrolle geraten, muss die massive Umverteilung zugunsten der neuen Oligarchie wieder rückgängig gemacht werden. Das geht nur – wie es auch Buffett fordert – mit einer Erhöhung der Steuern für Superreiche.

All dies ist keine Frage der Ideologie mehr und es geht auch nicht um Fairness oder Moral. Wer das System retten will, muss jetzt handeln. «Die Märkte funktionieren nicht mehr», sagt Roubini. «Der Kapitalismus ist im Begriff, sich selbst zu zerstören.»

Quelle: Tages-Anzeiger / NYT

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Mittwoch, 10. August 2011

Finanzpolitisches Märchen

Seit Ausbruch der Kreditkrise 2008 sind viele Dinge passiert, die nach gängiger Meinung eigentlich gar nicht passieren können, schreibt Valentijn van Nieuwenhuijzen von ING Investment Management in seiner neusten Stellungnahme - eine höchst ungewöhnliche Sicht aus Bankenkreisen.

Und doch: Immobilienpreise können fallen, die Risikobewertungen von Banken, bankenähnlichen Institutionen sowie von Rating-Agenturen können weit daneben liegen, die Konjunktur ist gegen Depressionen nicht gefeit und Staatspapiere aus Industrieländern sind nicht risikolos. Die anhaltende Finanzkrise, die sich in der aktuellen Staatsschuldenkrise fortsetzt, hat gezeigt, dass all unsere wirtschafts- und finanzpolitischen Instrumente samt der ihnen zugrunde liegenden wissenschaftlichen Theorien den Konjunkturzyklus nicht effektiv regeln und destabilisierende Erschütterungen des Systems nicht verhindern können. Letztendlich sind wir unsanft aus unserem Traum einer „Grossen Mässigung“ im weltwirtschaftlichen System erwacht und sehen uns jetzt einer Welt mit weniger – und schwankungsanfälligerem – Wachstum gegenüber.

Valentijn van Nieuwenhuijzen, Head of Strategy, Strategy and Asset Allocation Group bei ING Investment Management fordert konjunkturstützende Massnahmen.









Vor diesem Hintergrund waren die letzten drei Jahre für Märkte, politische Entscheidungsträger, Wirtschaftswissenschaftler und sonstige Experten von Fassungslosigkeit und Verwirrung geprägt. Tiefgreifende Überzeugungen standen auf dem Prüfstand; schnelles Handeln und wirtschaftspolitisches Umdenken waren gefordert, um die schlimmsten Auswüchse zu verhindern. Und noch haben sich Konsternation und Bestürzung angesichts der neuen wirtschaftlichen Realität nicht gelegt.

Bei Bilanzproblemen besteht häufig der Irrglaube, dass die Schuldenlast an einer Stelle nicht durch Verschuldung an anderer Stelle gelöst werden kann. Wenn dies auch auf den ersten Blick als nachvollziehbar erscheint, wird dabei vergessen, dass Schuldenprobleme in erster Linie Probleme der Verteilung sind und nicht eine höhere Verschuldung insgesamt für jeden Einzelnen bedeutet. Um es mal salopp auszudrücken: Was dem Einen seine Schulden, das ist dem Anderen sein Guthaben.

Starke bilanzielle Ungleichgewichte zwischen Sektoren und Ländern schaffen indes Schuldenprobleme, indem überschuldete Akteure (wie die Verbraucher in den USA und Grossbritannien, Banken, EWU-Peripheriestaaten) unter Druck geraten, während zugleich Ungewissheit entsteht, die die Ausgabenfreude der liquiden Player (Unternehmen, europäische Kernländer, Japan, Emerging Markets) dämpft. Letzteres ergibt sich aus den trüben Aussichten für die Nachfragesituation beziehungsweise den unüberschaubaren Kontrahentenrisiken im System infolge hoher Schuldenkonzentrationen.

Wenn innerhalb eines Wirtschaftssystems alle versuchen zu sparen und ihre Ausgaben drosseln, dann sinkt die Nachfrage, die Wirtschaftsleistung schrumpft und die Einkommen fallen. Dadurch werden die Schuldenungleichgewichte jedenfalls nicht verschwinden. Eine der Besorgnis erregendsten Konsequenzen der anhaltenden Finanzkrise – und hier seien insbesondere die Subprime-Krise in den USA und die griechische Staatsschuldenkrise genannt – ist die verbreitete Annahme, dass der einzige Weg aus der Krise über simultane Einsparungen führt. Das kann nur dann funktionieren, wenn diejenigen, die keine Schulden haben, die Einsparungen durch Konsum wettmachen. Ist das nicht der Fall, so lässt sich ein Double-Dip kaum vermeiden.

In der Hoffnung, einen solchen Rückfall in die Rezession abzuwenden, nehmen manche an, dass die Wirtschaftsleistung durch staatliche Sparmassnahmen sogar angekurbelt werden könne. Durch Förderung des Geschäftsklimas soll die Tätigkeit des Privatsektors beflügelt werden. Aus der Vergangenheit wissen wir jedoch, dass staatliche Sparmassnahmen nur dann von beschleunigtem Wirtschaftswachstum begleitet werden, wenn sinkende Risikoprämien an den lokalen Staatsanleihemärkten, eine erheblich an Wert verlierende Währung, eine starke ansteigende Auslandsnachfrage oder ein Zusammenspiel dieser Elemente Ausgleich schafft. Selten kommt es ohne einen dieser Faktoren zu deutlichen Stimmungsverbesserungen in der Wirtschaft oder bei Privaten.

Die meisten Länder, die bereits Sparmassnahmen ergriffen haben oder ihren Einsatz erwägen, haben scheinbar Schwierigkeiten, eine solche Dynamik anzustossen. Von der griechischen Tragödie traumatisiert, behaupten zahlreiche Experten, dass umgehende Sparmassnahmen nicht nur für Griechenland, sondern auch für Länder ohne drängende Finanzierungsrisiken oder Druck an den Anleihemärkten geboten seien, um ihre Staatsfinanzen in den Griff zu bekommen. In diese Kategorie fallen die europäischen Kernländer, aber auch Grossbritannien, Japan und die USA. All diese Länder sehen sich zwar langfristig Solvenzproblemen gegenüber, doch diese Herausforderungen ergeben sich in erster Linie aus den demografischen Trends und den damit verbundenen Gesundheits- und Pensionskosten. Hier spielen zudem überzogen optimistische Annahmen zur Kostendämpfung im Gesundheitssektor und zur Entwicklung der Anlagerenditen (Rentenkassen) eine Rolle. In jedem Fall handelt es sich um langfristige Problemstellungen.

Die enormen Haushaltsdefizite, mit denen viele dieser Länder heute kämpfen, sind überwiegend Folge der schwersten Rezession seit der Grossen Depression und der nur sehr schleppend vonstatten gehenden Erholung. Gleichzeitig ist ein grosser Teil des Privatsektors entweder nicht in der Lage (bilanzielle Beschränkungen) oder nicht bereit (mangelndes Vertrauen in künftige Nachfrageentwicklung), seine Ausgaben zu steigern. Ohne kurzfristige Konjunkturförderung ist es daher unwahrscheinlich, dass sich die Wachstumsaussichten auf wundersame Weise verbessern, es sei denn, dass sich die fiskalpolitischen Fabeln diesmal als wahr erweisen.

Die realistischste wirtschaftspolitische Herangehensweise wäre daher, sich nicht auf die konjunkturell heilsamen Effekte eines Sparkurses zu verlassen, sondern kurzfristige Konjunkturförderung mit einer glaubwürdigen langfristigen Restrukturierung der Finanzierungslücke bei Gesundheits- und Rentenkassen zu kombinieren. Setzt man sein Vertrauen dagegen auf die gute Märchenfee und hofft, dass liquide Unternehmen aus Freude am Sparkurs endlich damit beginnen, neue Arbeitsplätze zu schaffen und zu investieren, dann beisst sich die Schlange unweigerlich in den Schwanz. Dies wurde bereits am Beispiel Griechenlands vorexerziert, wo drastische Sparmassnahmen die heimische Wirtschaft derartig untergraben haben, dass die Staatseinnahmen eingebrochen und infolgedessen die Ziele der fiskalischen Konsolidierung verfehlt wurden.

Aber auch die Aussichten für die USA, die Eurozone und Grossbritannien sind nicht gerade umwerfend. Trotz der enttäuschend langsamen Konjunkturerholung in diesen Ländern geht es bei der fiskalpolitischen Debatte nur um das Ausmass der fiskalpolitischen Straffung auf kurze Sicht und nicht etwa darum, ob eine solche Straffung überhaupt stattfinden sollte. Wie gesagt müssen sich all diese Volkswirtschaften ihren langfristigen Solvenzproblemen stellen. Das sollte jedoch durch langfristig angelegte Massnahmen geschehen, die sich in den nächsten 12 bis 18 Monaten nicht belastend auf das Wachstum auswirken. Daran fehlt es bislang jedoch und deshalb sind die Wachstumsrisiken für die nahe Zukunft gestiegen. Hoffen wir, dass die politisch Verantwortlichen schnell genug auf den Boden der Tatsachen zurückfinden, um einen neuen Abschwung zu stoppen. Hoffnung ist momentan alles, was uns bleibt, denn alle Anzeichen deuten in die andere Richtung.

Quelle: Fondstrends

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