Mittwoch, 14. September 2011

Wie Finanzsektor Politik erpresst

Die Politik wähnte sich mächtig, als sie vor drei Jahren die US-Investmentbank Lehman Brothers pleitegehen ließ. Ein fataler Irrtum. Die Finanzkrise hat gezeigt, wie sehr das Wohl der Staaten an ihren Banken hängt - und dass Regierungen den Märkten nur hinterherhecheln. Gerade jetzt in der Euro-Krise. Eine Spiegel-Online-Analyse.

Henry Paulson muss sich stark fühlen an jenem 15. September 2008. Der US-Finanzminister hat eine schwere Entscheidung zu treffen: Zweimal ist er bereits mit Staatsgeldern eingesprungen, um strauchelnde Banken zu retten: bei der Investmentbank Bear Stearns sowie bei den Immobilienfinanzierern Fannie Mae und Freddie Mac. Nun steht Lehman Brothers vor der Pleite - die viertgrößte Investmentbank an der New Yorker Wall Street. Keiner der Konkurrenten will das Institut übernehmen. Nur noch Paulson kann helfen.

Der Minister war früher selbst Chef einer Investmentbank. Erst vor kurzem ist er von Goldman Sachs auf die Seite der Politik gewechselt. Nun will er ein Zeichen setzen: Die Regierung ist stärker als die Finanzwelt. Sie hat es in der Hand, einen Giganten wie Lehman Brothers zu retten oder ins Verderben zu schicken. Paulson lässt die Bank fallen. Die Pleite von Lehman Brothers sollte eine Machtdemonstration der Politik werden - am Ende wurde daraus das Eingeständnis ihrer Machtlosigkeit.

Paulsons fatale Entscheidung liegt nun drei Jahre zurück. Doch sie bewegt die Finanzwelt bis heute. Denn das, was nach Lehman kam, war eine ökonomische Katastrophe: Die halbe Weltwirtschaft erstarrte vor Schreck. Banken in Europa und den USA liehen sich untereinander kein Geld mehr. Um ein noch größeres Desaster zu vermeiden, mussten die Staaten gleich reihenweise mit Steuergeldern einspringen. Die Volkswirtschaften der westlichen Welt stürzten in die Rezession. Und die Staaten türmten enorme Schuldenberge auf - eine der Hauptursachen für die aktuelle Euro-Krise und die Haushaltsmisere in den USA.

Vor allem aber ist seit Lehman klar: Viele Banken sind so groß, dass die Regierungen sie nicht pleitegehen lassen können. Im Umkehrschluss hieß das: Die Finanzriesen haben eine Überlebensgarantie. Die Politik ist erpressbar. Seitdem wurde viel geredet. Über das "Primat der Politik", das es wiederherzustellen gelte. Eine "Ära der Verantwortungslosigkeit" werde beendet, jubelte Bundeskanzlerin Angela Merkel nach einem der vielen internationalen Krisengipfel. Doch geschehen ist seitdem wenig.

Drei Jahre nach der Lehman-Katastrophe kündigt sich das nächste Bankenbeben an. Wie damals trauen die Geldhäuser sich gegenseitig nicht mehr über den Weg - und auch die Investoren haben die Zuversicht verloren: Seit Anfang August rauschen die Aktienkurse nach unten. Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann sieht sich bereits an den Herbst 2008 erinnert. Die Politik hat es versäumt, sich aus ihrer Abhängigkeit von der Finanzwelt zu lösen. Noch immer sind die Banken "too big to fail" - zu groß, um pleitezugehen. Auch deshalb müssen die Regierungen Europas all die Hilfspakete für Griechenland, Portugal oder Irland schnüren: Um ihre eigenen Banken zu retten, die haufenweise Staatsanleihen der Krisenländer in ihren Bilanzen haben.

Die Euro-Krise zeigt besonders deutlich, dass die Regierungen zu Getriebenen der Finanzmärkte geworden sind. Ob Notkredite, Rettungsschirme oder Anleihenkäufe - die Märkte bekommen, was sie wollen. Und die Politik wirkt umso machtloser, je länger sie sich gegen das Unvermeidliche zu sträuben versucht.

Doch wer ist Schuld an der prekären Lage? Stecken hinter den Finanzmärkten böse Mächte, die es sich zum Ziel gesetzt haben, die Politik zu unterwerfen? Schon im Mai 2008, vier Monate vor dem Lehman-Desaster, sprach der damalige Bundespräsident Horst Köhler von den Finanzmärkten als "Monster", das in seine Schranken gewiesen werden müsse. Was Köhler damals weitgehend verschwieg: Die Politik hatte dieses Monster selbst erst gezüchtet.

Deregulierung hieß die Devise von den achtziger Jahren bis zum Jahr 2007: In den USA unterschrieb der damalige Präsident Bill Clinton 1994 ein neues Bankengesetz, das Instituten erlaubte, im ganzen Land tätig zu werden. 1999 hob er die seit mehr als 60 Jahren geltende Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken auf. Hinzu kam seit Anfang der neunziger Jahre eine laxe Geldpolitik der US-Notenbank Fed, die die Finanzwelt mit billigen Krediten fütterte.

Auch Deutschland setzte voll auf die Entfesselung der Bankenbranche: "Die gewaltigen Potentiale des deutschen Finanzmarktes" müssten vollständig ausgeschöpft werden, schrieb das Bundesfinanzministerium noch 2005 auf seiner Internetseite. Dabei rühmte sich das damals noch SPD-geführte Ministerium: "Die Bundesregierung hat es Kreditinstituten erleichtert, Kreditforderungen zu verbriefen" - eine Praxis, die damals in den USA so extensiv betrieben wurde, dass sich daraus zwei Jahre später, im Jahr 2007, die erste Stufe der Weltfinanzkrise entwickelte.

Da war das Monster längst so groß geworden, dass die Politik es nicht mehr einfangen konnte. Von nun an diktierten die Finanzmärkte den Regierungen, was diese zu tun und zu lassen haben. Die Bankenrettungen im Herbst 2008 machten die neuen Machtverhältnisse lediglich für alle sichtbar. Märkte haben keine Moral. Woher auch? Sie bestehen aus einer Masse von Individuen, die alle nach dem für sie größten Gewinn streben. Deshalb darf auch niemand von ihnen erwarten, dass sie moralisch handeln und zum Beispiel freiwillig Griechenland vor der Pleite retten. Es ist vielmehr an der Politik, den Rahmen für die Marktteilnehmer so zu setzen, dass in der Summe kein Schaden für die Allgemeinheit entsteht.

Doch dazu müsste die Politik erst einmal wieder die Hoheit über ihr eigenes Handeln gewinnen. Wie das gehen soll, weiß momentan niemand so recht. Die bisherigen Versuche verliefen ernüchternd: Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble setzte im August zwar durch, dass sich private Banken und Versicherungen mehr oder weniger freiwillig am neuen Rettungspaket für Griechenland beteiligen. Doch der Coup droht zum Flop zu werden, wenn die angekündigte Beteiligungsquote von 90 Prozent nicht erreicht wird.

Auch sonst ist die Politik kaum vorangekommen bei dem Versuch, sich von Banken und Finanzmärkten zu emanzipieren. Die geplante Bankenabgabe fällt so niedrig aus, dass sie das Kräfteverhältnis kaum umkehren wird. Und ob die von einigen Ländern Europas angepeilte Finanztransaktionssteuer jemals kommen wird, steht in den Sternen - zu schwierig ist es, so viele verschiedene Staaten politisch auf eine Linie zu bringen.

Um wenigstens ein bisschen Stärke zu demonstrieren, versuchen es einzelne Staaten immer wieder mit hektischen Alibi-Aktionen wie dem Verbot von Leerverkäufen. Doch zähmen können sie die Märkte damit kaum: Obwohl seit August in Frankreich ein Leerverkaufsverbot für Bankaktien gilt, rauschen die Kurse von BNP Paribas oder Société Générale ungebremst nach unten.

Ein wenig Hoffnung macht lediglich die geplante Verschärfung der Eigenkapitalvorschriften. Um künftige Krisen besser ohne Staatshilfe auffangen zu können, sollen vor allem Großbanken dazu verpflichtet werden, ihr Eigenkapital zu stärken. Ganz ohne staatliche Hilfe werden sie im Notfall aber wohl trotzdem nicht auskommen.

Der nächste Test für das Machtverhältnis zwischen Märkten und Politik könnte der Fall Griechenland sein. Doch bei genauerem Hinsehen ist auch dieser Kampf schon entschieden. Selbst wenn sich Europas Regierungen dazu durchringen sollten, das schuldengeplagte Land pleitegehen zu lassen, dürfte dies ein Sieg für die Finanzwelt sein. Durch die Rettungspakete von EU und IWF sowie die Anleihenkäufe der Europäischen Zentralbank liegt der Großteil der griechischen Schulden nämlich längst bei der öffentlichen Hand. Die größten Risiken einer Pleite tragen also die Steuerzahler und nicht die Banken. Die Politik wird wohl noch eine ganze Weile eine Getriebene der Märkte bleiben.

Quelle: Spiegel Online

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