Dienstag, 17. April 2012

Zeit für neuen Kapitalismus

Die Unsicherheit an den Finanzmärkten ist zurück - und zeigt vor allem eins: Immer mehr billiges Geld in die Wirtschaft zu pumpen, ist keine Lösung. Europa muss endlich einen Ausweg aus der selbstgestellten Falle finden. Ein Plädoyer für einen neuen Kapitalismus. Ein Kommentar von Henrik Müller, Mitglied der Chefredaktion des Manager Magazins.
Es war ein kurzer Frühling im Winter. Nachdem der Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, am 8. Dezember die fast vollständige Öffnung der Liquiditätsschleusen verkündet hatte, entspannte sich die Lage an den Anleihemärkten vorübergehend. Die Zinsen sanken, finanziell bedrängte Staaten wie Italien und Spanien konnten neues Geld aufnehmen. Drei Monate dauerte die Entspannung. Jetzt ist die Krise zurück: Wieder steigen die Zinsen, die Ängste, die düsteren Vorhersagen, besonders in Spanien. Offenkundig hat es Europa mit einem Problem zu tun, das mit immer mehr Geld nicht zu lösen ist.
Immerhin ist die Draghi-Zentralbank an die Grenze ihrer Möglichkeiten gegangen. Eine Billion Euro zu Niedrigzinsen mit einer Laufzeit von drei Jahren hat die EZB den Kreditinstituten angeboten. Damit hat sie sich dem stillen Sturm auf die Banken in den beiden großen Südländern Italien und Spanien entgegengestellt. Inzwischen dürfen nationale Notenbanken selbst bestimmen, welche Sicherheiten sie akzeptieren. Mit anderen Worten: Die europäische Geldpolitik mag noch eine gemeinsame sein, aber sie ist keine einheitliche mehr. Nachhaltig geholfen hat die Operation nicht.
Wenn sich die Mitglieder des EZB-Rats in diesen Wochen zu ihrem üblichen informellen Abendessen treffen, dann stehen sie vor der Frage, was sie noch tun können. Abermals Staatsanleihen vom Markt kaufen, wie Direktoriumsmitglied Benoît Cœuré bereits öffentlich erwogen hat? Noch mehr Liquidität in die Banken pumpen? Den Leitzins noch weiter Richtung Nulllinie senken?
Die EZB kann bloß Zeit kaufen
Mit solchen Maßnahmen kann die EZB den akuten Zusammenbruch einzelner Volkswirtschaften verhindern. Sie kann Zeit kaufen. Aber sie ist nicht in der Lage, die fundamentalen Probleme zu lösen. Nämlich:
  • Die hohen Schulden: Die öffentlichen und privaten Schulden sind in vielen Euro-Staaten so hoch, dass sie die Wirtschaft immer wieder ins Minus ziehen. Erst wenn ein nachhaltiger Abbau der Schulden auf den Weg gebracht ist, eröffnen sich Europa die Spielräume, seine weiteren Probleme zu lösen.
  • Die brüchige Verfassung: Die Währungsunion wird auf Dauer nur halten können, wenn sich die Euro-Zone zu den Vereinigten Staaten von Euro-Land weiterentwickelt.
  • Der fehlgeleitete Kapitalismus: In den vergangenen zwei Jahrzehnten degenerierte die westliche Wirtschaftsordnung in eine selbstzerstörerische Richtung. Dies ist ein Problem nicht nur Europas, sondern der gesamten westlichen Welt.
Fehlgeleitet war diese Wirtschaftsordnung, weil sie auf immer billigere Kredite und immer größere Kreditvolumina setzte. Diese Mittel flossen in den nuller Jahren immer weniger in produktive Investitionen; die Produktionskapazitäten wurden kaum ausgeweitet. Stattdessen stiegen die Preise für existierende Vermögensgüter - Firmen, Aktien, Anleihen, Rohstoffe, Häuser - immer weiter in die Höhe.
Fatale Kettenbrief-Ökonomie
Mit anderen Worten: Existierende Vermögensgüter wurden zu immer höheren Preisen getauscht - Kettenbrief-Ökonomie nennt man das. In einigen Ländern setzten Baubooms ein, die die ganze Wirtschaftsstruktur verzerrten, Löhne nach oben trieben und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit schadeten. Im Euro-Land waren von dieser Entwicklung vor allem Spanien und Irland betroffen.
Fehlgeleitet war diese Wirtschaftsordnung auch, weil häufig nicht mehr die Frage im Vordergrund stand, ob eine ökonomische Aktivität eigentlich irgendwie nützlich sei: Machte sie das Leben von Menschen besser? Steigerte sie das Wohlergehen und den Wohlstand? Vielmehr ging es darum, Renditeerwartungen zu erfüllen, die zeitweise exzessiv waren.
Doch eine Wirtschaft, deren primäres Ziel es ist, eine möglichst hohe Kapitalverzinsung zu erwirtschaften, läuft in die Irre. Wer nur kurzfristig die Rendite erhöhen will, kann das tun, indem er beliebig die Kosten kürzt - bis das Unternehmen stirbt. Profit und Rendite zu erwirtschaften, kann nur eine Nebenbedingung einer nachhaltigen Wirtschaft sein, kein Selbstzweck.
Humankapitalismus statt Finanzkapitalismus
Mit den Ergebnissen dieser Fehlentwicklungen hat Europa heute zu kämpfen. Eine sinnentleerte Volkswirtschaft ist nicht mehr in der Lage, den Wohlstand zu mehren. Sie erstickt in ihren Schulden und geht unter. Herausfinden wird Europa aus dieser Lage nur, indem es die Interessen der Menschen in den Mittelpunkt stellt. Nur die Kreativität des menschlichen Geistes, der Neues ersinnt, wird die derzeitige Krise überwinden können.
Dementsprechend müssen sich Unternehmen und ganze Volkswirtschaften organisieren: Bildung, Kultur, kreative Freiräume - Humankapitalismus statt Finanzkapitalismus.
Es gibt immer wieder historische Phasen, in denen die Interessen der Kapitaleigner einseitig im Vordergrund stehen. Das ist der Fall, wenn der Produktionsfaktor Kapital knapp ist, weil die Märkte wachsen und die Kapazitäten ausgebaut werden. Das ganze System richtet sich dann am knappen Faktor Kapital aus. So war es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Industrialisierung den Bau immer größerer Fabriken antrieb und die rasche Verstädterung neue Ballungsräume entstehen ließ. So war es in den vergangenen beiden Jahrzehnten, als die Globalisierung die Weltmärkte öffnete.
In dieser Phase ging es darum, bestehende Geschäftsmodelle weltweit auszudehnen. Mit anderen Worten: immer mehr vom Gleichen zu produzieren. Beispiel Autoindustrie: Erst wurden neue Fabriken in Osteuropa gebaut, dann in Asien. Aber sie fertigen im Prinzip immer noch die gleichen Produkte.
Weltwirtschaft am Wendepunkt
Derzeit steht die Weltwirtschaft an einem Wendepunkt: Das bisherige Entwicklungsmodell hat sich totgelaufen - immer mehr vom Gleichen stößt irgendwann an Grenzen. Kein Wunder, dass auch in den Schwellenländern, sogar in China, das Wachstum abflaut. Jetzt bedarf es Innovationen, ohne die weiterer Fortschritt nicht stattfinden kann.
Der wirklich knappe Faktor ist nicht mehr Kapital, sondern Kreativität - Humankapital in seiner schönsten Form. Die derzeitige Krise wird der Westen nur überwinden können, wenn die freien Gesellschaften diese Knappheit überwinden lernen.
Immer mehr billiges Geld in die Wirtschaft zu pumpen, ist jedenfalls keine Lösung. Sollte Europa nicht in der Lage sein, sich aus der selbstgestellten Falle herauszuwinden, dann wäre das eine Blamage historischen Ausmaßes.
Gerade die aufstrebenden Länder Asiens und Lateinamerikas beobachten uns sehr genau. "Finden wir eine demokratische Lösung? Oder lassen wir alles in Staatsbankrotten und Inflation den Bach runtergehen?", sagte mir kürzlich ein Euro-Notenbanker. Wie viel sind Demokratie und Freiheit eigentlich wert, wenn die europäischen Kulturnationen keinen Ausweg aus der selbst gestellten Schuldenfalle finden?
"Derzeit", sagt er, "steht unser Modell auf dem Prüfstand."
Quelle: Spiegel Online

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Samstag, 14. April 2012

Wachstum statt Sparen

Der renommierte US-Ökonom und Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz, der unter anderem für seinen Einsatz für Entwicklungsländer und gegen die über Jahrzehnte verfehlte Strukturanpassungspolitik der Weltbank und des IWF berühmt geworden ist, ist der Süddeutschen Zeitung Red und Antwort gestanden. Joseph Stiglitz kritisiert in dem Interview die eiserne Sparpolitik der Euroländer. Der Kapitalismus hilft derzeit nur Wenigen: "Der Wohlstand wird ungleich verteilt, das Meiste geht an die Spitze, an der Basis bleibt wenig."




Joseph Stiglitz kritisiert in dem Interview die eiserne Sparpolitik der Euroländer. Stiglitz wörtlich: „Eine Überdosis Sparen macht alles nur schlimmer.“ Weltweit gebe es kein Beispiel dafür, dass Kürzungen von Löhnen, Renten und Sozialleistungen ein krankes Land genesen ließen, zitiert die Süddeutsche Zeitung. „Das ist wie im Mittelalter“, so Stiglitz, „Wenn der Patient starb, hieß es: Der Arzt hat den Aderlass zu früh beendet, es war noch etwas Blut in ihm.“ Mit diesem Rezept seien überschuldete Schwellenländer jahrzehntelang behandelt worden – mit fatalem Ergebnis. „Oft endete das tödlich.“

Getreu den Lehren des großen Ökonomen John Maynard Keynes favorisiert Stiglitz statt dessen antizyklische Investitionen, um das Wachstum zu stärken und aus der Krise herauszuwachsen, anstatt sich weiter hineinzusparen. Dies solle dann allerdings über höhere Steuern gegenfinanziert werden. Exemplarisch nannte er die von der Finanzlobby wie das Weihwasser gescheute Finanztransaktionssteuer (Einführung einer Mehrwert-/Umsatzsteuer auf Finanzprodukte), deren Einführung auf der Euroebene allerdings kürzlich erst an Bundesfinanzminister Schäuble gescheitert ist.

Exkurs: Deutschland ist dabei nicht das erste mal vor der Finanzlobby eingeknickt: Auch das internationale Abkommen zur Regulierung der Banken, Basel III, wurde auf Drängen des internationalen Bankenverbandes IIF unter dessen Chef Joseph Ackermann laut dem Wall Street Journal von den deutschen Unterhändlern verwässert

Ein weiteres Beispiel ist der ohne Not geringere Steuersatz in dem bilateralen Steuerabkommen mit der Schweiz, in dem Deutschland sogar den Zinssatz in dem Äquivalent zwischen Großbritannien und der Schweiz unterläuft, sowie noch deutlicher und gravierender unter der von der EU geforderten einheitlichen Quellensteuer mit der Schweiz liegt. Stiglitz fordert auch eine gemeinsame Haushaltsbehörde für den Euro-Raum, um die regionalen Unterschiede in der Wirtschaftskraft auszugleichen. Dies zielt in Richtung einer Transferunion, um strukturschwache Euro-Regionen zu fördern. Dies ist auch ein Seitenhieb gegen vorschnelle Erweiterungen der Eurozone in der jüngeren Vergangenheit, in deren Zug ärmere Regionen „aufgekauft“ werden konnten, anstatt sie zunächst an das Niveau der Kernländer heranzuführen.

Laut Stiglitz müssten sich Europa und die USA auf einen zunehmenden Machtverlust einstellen, während China und Indien in der Weltwirtschaft zunehmend an Bedeutung gewinnen würden. Damit würde laut Stiglitz allerdings nur eine „Anomalie der Geschichte korrigiert“ werden, die erst in den letzten 200 Jahren aufkam. Die Machtverschiebung werde allerdings nicht ohne Konflikte ablaufen: „Ich erwarte eine ganze Menge geopolitische und wirtschaftliche Auseinandersetzungen. Man wird darüber streiten, wer die Geschicke der Welt lenkt.“

Am Ende des Interviews lieferte Stiglitz dann noch eine grundsätzliche Kapitalismuskritik: Der Kapitalismus in seiner derzeitigen Ausformung würde nur einem kleinen Teil der Menschen wirklich nutzen. „Der Wohlstand wird ungleich verteilt, das meiste geht an die Spitze, an der Basis bleibt wenig.“ Die Volkswirtschaften bräuchten „mehr Transparenz, mehr Einkommensgerechtigkeit und vor allem: mehr Moral“.