Der Skandal erinnert an die Auslöser der
Finanzkrise: Das US-Geldhaus JP Morgan Chase hat bei obskuren
Spekulationsgeschäften zwei Milliarden Dollar in den Sand gesetzt - in
nur sechs Wochen. Noch schwerer als der finanzielle Verlust aber wiegt
der Imageschaden für den stolzen Bankchef Jamie Dimon - Hintergründe von Spiegel Online.
Es klingt wie eine Gruselszene aus dem Jahr 2008, vom Vorabend der
Finanzkrise. Der Boss einer Wall-Street-Bank beruft nach Börsenschluss
hastig eine Konferenzschaltung mit Analysten ein. Er enthüllt
unerwartete Milliardenverluste aus riskanten Finanzwetten, die das
Fundament der Bank ins Wanken bringen könnten. Er
versichert, dass das
Fundament der Bank nicht wanke. Im nachbörslichen Handel stürzt der
Aktienkurs der Bank ab.
Fast vier Jahre nach Beginn der internationalen Finanzkrise sollte das nicht mehr passieren. Und doch passiert es
am Donnerstag in New York. Der Bankboss ist Jamie Dimon, der letzte der Großen, die sich aus jenen turbulenten Jahren noch gehalten haben. Die Bank ist
JP Morgan Chase
(JPM)
, die heute größte Bank der USA. Und die Spekulationsverluste beziffern
sich auf rund zwei Milliarden Dollar - in nur sechs Wochen.
"Das waren ungeheuerliche Fehler", gibt selbst der sonst so
selbstbewusste Dimon zu. "Sie waren
selbstverschuldet, und das ist nicht
die Art, wie wir ein Geschäft führen wollen." Woher kam das Geld? Wo ist es geblieben? Wer hatte die Aufsicht?
Wieso zog keiner die Notbremse? Wer haftet? Noch bleiben die Details
diffus. Fest steht, dass dies mehr ist als ein Dämpfer für die stolzeste
- manche sagen überheblichste - Bank der Wall Street. Zwar ist der Schaden auf dem Papier noch relativ - im vergangenen
Jahr verdiente JPM fast 19 Milliarden Dollar, dürfte den bisherigen
Verlust also wegstecken können. Doch der Imageschaden ist jetzt schon
unabschätzbar: "JP Morgan verzockt seine Krone", titelt das "Wall Street
Journal" fast schadenfroh.
Vom politischen Schaden ganz zu schweigen: Blitzschnell werden mal
wieder neue Rufe nach schärferer Aufsicht der Wall Street laut -
Forderungen, denen zuletzt gerade Dimon, der seit der Krise als
einflussreichster Banker Amerikas gilt, am vehementesten widersprach. Der Skandal "sät Zweifel an Jamies Opposition und gibt denen
Auftrieb, die härtere Regulierungen gefordert haben", sagte der Analyst
Mike Mayo (Credit Agricole Securities) der "New York Times" - und fügte
spöttisch hinzu: "Oh, wie die Mächtigen gefallen sind."
Zum Vergleich: Ein Schaden von rund zwei Milliarden Dollar
entspräche
in etwa dem Verlust, den die Schweizer Großbank UBS Ende vorigen Jahres
durch die Geschäfte eines einzelnen Händlers in London erlitt. Sowie
der Summe, die dem US-Finanzgiganten MF Global abhanden ging und zu
seiner Pleite führte. Auch aus einem anderen Grund kann sich JPM diese Peinlichkeit gerade
nicht leisten: Es ist Konsortialführer für den kommenden Mega-Börsengang
von Facebook. Dessen Chef
Mark Zuckerberg dürfte darüber kaum erfreut sein.
Was bisher bekannt ist: Brandherd ist demnach das Chief Investment
Office (CIO), eine Abteilung bei JPM, die in obskuren Finanzmärkten
spekuliert, um die Aktiva und Passiva der Bank auszugleichen - eine Art
firmeninterne Hedgefondsgruppe. Diese fiel schon im April auf: Da kursierten Gerüchte, ein
JPM-Trader, der in London sitze, habe
auffällig hohe Wetten im
Derivatemarkt gewagt - mit Credit Default Swaps (CDS). Das "Wall Street
Journal" identifizierte den Mann als Bruno Iksil - in Branchenkreisen
auch "Londoner Wal" oder "Voldemort" genannt, nach dem fiktiven
Harry-Potter-Schurken.
Dimon wiegelte diese Sorgen damals noch ab: "Ein Sturm im
Wasserglas", sagte er Mitte April. Das soll er wohl noch diese Woche in
persönlichen Gesprächen mit Analysten wiederholt haben. Nun
entschuldigte er sich bei ihnen. Denn jetzt sind es genau jene CDS-Deals, die JPM reingerissen haben.
JPM habe in seinem "synthetischen Kredit-Portfolio erhebliche
Marktverluste erlitten", gab Dimon zu - in Zahlen:
"Zwei Milliarden
Dollar." Besagtes Portfolio habe sich "als riskanter, volatiler und
weniger effektiv erwiesen" als angenommen. Auch seien die Deals
"schlecht geprüft, schlecht ausgeführt und schlecht überwacht" worden.
Auch von "Irrtümern", "Schlampereien" und "schlechtem Urteilsvermögen"
soll die Rede gewesen sein.
Déjà-vu: Das Desaster spielte sich auf den gleichen Schauplätzen ab
und
unter ähnlichen Umständen wie die Zockereien, die 2008 zum
Bankenkollaps geführt hatten. Als habe sich nichts geändert, hätten die
Banker nichts gelernt aus der Krise, die die Finanzwelt in die Knie
zwang. Vor allem für die Bank, die die Finanzkrise besser gemeistert hatte
als alle anderen, ist das peinlich - und für Dimon, der sich deshalb
lange als "König der Wall Street" und lautester Wortführer gegen alle
die aufplusterte, die es wagten, die Unfehlbarkeit der Finanzbranche
anzuzweifeln. Jetzt ergreift er selbst die Flucht nach vorne: "Wir
stehen dumm da", murrt er. "Wir verdienen jede Kritik, die wir
bekommen."
Das Debakel zieht den ganzen Konzern runter. Als Konsequenz der
Zockerei macht allein die Corporate Group, das JPM-Kernunternehmen, im
zweiten Quartal statt wie veranschlagt 200 Millionen Dollar Gewinn nun
800 Millionen Dollar Verlust. Doch auch das sind nur Schätzungen. Der wahre Schaden hängt von der
Reaktion der Märkte ab und könnte, warnt Dimon, "leicht schlimmer
werden". Im dritten Quartal könnte noch eine weitere Milliarde Dollar
flöten gehen. Schon sackte die JPM-Aktie im nachbörslichen Handel um
mehr als 6,7 Prozent ab - und mit ihr kippten auch die Kurse anderer
US-Banken.
Doch noch etwas Beunruhigenderes enthüllt der Schock vom Donnerstag:
Die hinter dem Desaster steckenden Geschäfte scheinen
sogar für Dimon zu
"komplex", und er selbst kann die wahren Verluste nicht exakt
beziffern. "Damit wäre kristallklar", wettert der Börsenblogger und
Ex-Trader Henry Blodget, "dass die Wall Street keine verdammte Ahnung
hat, wie man Risiken abschätzt und managt". Und auf einmal stellt sich wieder die gleiche Frage, die sich nach
der Krise stellte: Sind die Wall-Street-Riesen "too big to fail" - zu
groß, um sich selbst überlassen werden zu dürfen?
Womit das Thema sogar in den Wahlkampf reingeraten könnte. Die Debatte um die Wall-Street-Aufsicht hat US-Präsident
Barack Obama
politisch schwer zu schaffen gemacht, schien aber eigentlich bis zur
Wahl beigelegt. Zu früh: Die JPM-Verluste, sagte jetzt der demokratische
Senator Carl Levin, erinnerten "krass daran, dass die Aufsichtsbehörden
harte, effektive Richtlinien schaffen müssen".
Im Juli 2010 hatte der Kongress die
große Finanzmarktreform
verabschiedet - in entschärfter Form. Vor allem Derivate sind dabei
relativ ungeschoren davongekommen. Teil dieses Gesetzespakets war die
"Volcker-Regel", benannt nach dem Ex-Notenbankchef Paul Volcker. Demnach
dürfen die Banken nicht länger auf eigenes Konto an den Kreditmärkten
spekulieren. Die Regel ist aber bis heute nicht in Kraft und wird von
der Wall-Street-Lobby weiter kritisiert, weil sie der Liquidität schade. Jamie Dimon ist sich der Ironie bewusst - er ist einer der schärfsten
Kritiker der "Volcker-Regel". "Das spielt einem ganzen Haufen von
Besserwissern da draußen in die Hand", sagt er nun. Er werde es
verkraften:
"So ist das Leben."
Quelle:
Spiegel Online
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