Dienstag, 24. August 2010

Sozialer Nutzen lässt arbeiten

Bei öffentlichen Gütern versagt der Markt, lernt jeder Student der Volkswirtschaftslehre. Doch der Erfolg von Wikipedia widerlegt diese Theorie und ist eine der am häufigsten besuchten Internetseiten weltweit. Warum, zeigt eine neue Studie.

Was für ein Irrtum. Im Sommer 2002 berichtete die „Berliner Zeitung“ als eines der ersten deutschen Medien über das Internetlexikon Wikipedia – fasziniert, aber auch skeptisch: „Doch mag das Wissensreservoir auch regen Zulauf haben und stetig wachsen: In nächster Zeit wird es ihm wohl nicht gelingen, Referenzwerken wie dem Brockhaus den Rang abzulaufen.“ Keine sechs Jahre später teilte der Brockhaus-Verlag das Aus für das gedruckte Lexikon mit – und Wikipedia ist heute eine der am häufigsten besuchten Internet-Seiten weltweit. Zehntausende arbeiten für Wikipedia, freiwillig und ohne jedes Honorar. Eine Erfolgsgeschichte, die Volkswirte in Erklärungsnöte bringt. Ihre traditionellen Theorien legen nahe, dass es den Aufstieg des Internetlexikons gar nicht hätte geben dürfen. Warum sollten sich rationale Individuen die Mühe machen, unentgeltlich Lexikonartikel für ein anonymes Publikum zu schreiben? Jeder Internetnutzer kann das Onlinelexikon nutzen, ohne dass er selbst Beiträge beisteuert.

Damit ist Wikipedia das, was Volkswirte ein „öffentliches Gut“ nennen – ein Angebot, von dem alle Menschen profitieren und von dessen Nutzung niemand ausgeschlossen werden kann. Klassische Beispiele dafür sind Deiche und Straßenlaternen. Bei öffentlichen Gütern, so lernen angehende Volkswirte im Grundstudium, gibt es ein großes Dilemma: Es existieren starke Anreize zum Trittbrettfahrertum – dazu, das Angebot zu nutzen, ohne eine Gegenleistung zu erbringen. Die traditionelle Volkswirtschaftslehre postuliert: Je größer die Zahl der potenziellen Nutznießer ist, desto mehr Probleme entstehen mit Trittbrettfahrern.

Zumindest bei Wikipedia ist genau das Gegenteil der Fall, zeigt eine neue Studie, die demnächst im "American Economic Review" erscheint: Je größer die Zahl der potenziellen Leser, desto eher sind Menschen bereit, ihre Arbeitszeit für die Online-Enzyklopädie aufzuwenden – vermutlich, weil sie mentale Befriedigung daraus ziehen, dass ihre Text von vielen anderen gelesen werden.

Die Wissenschaftler Xiaoquan Zhang (Hong Kong University of Science and Technology) und Feng Zhu (University of Southern California) weisen diesen Effekt am Beispiel der chinesischen Wikipedia-Seite nach. Sie nutzen aus, dass die Regierung in Peking die Seite wegen politisch unliebsamer Informationen mehrfach zensiert hat. Ab Oktober 2005 zum Beispiel konnten Internetnutzer in China die Wikipedia-Seite fast ein Jahr lang nicht aufrufen. Durch die Blockade hat sich die Zielgruppe von Wikipedia über Nacht drastisch verringert. Millionen Internetnutzer waren plötzlich ausgeschlossen. Für chinesischsprachige Menschen in Taiwan, Hongkong und dem Rest der Welt blieb die Seite dagegen nutzbar.

Welche Folgen hatte das für die Aktivitäten auf der Webseite? Die Forscher konzentrierten sich auf das Verhalten der Nutzer außerhalb der Volksrepublik China – Menschen, die trotz Sperre weiter auf die Seite zugreifen und sie ändern konnten. Zhang und Zhu nutzen aus, dass alle Änderungen in Texten auf der Wikipedia-Seite detailliert protokolliert werden und Rückschlüsse zulassen auf das Land, in dem die Autoren leben. Sie verglichen die Aktivitäten bei Wikipedia unmittelbar vor und nach der Sperre. Sie stellten fest: Mit Beginn der Blockade haben sich chinesischsprachige Internetnutzer außerhalb der Volksrepublik deutlich weniger für Wikipedia interessiert – sie schrieben schlagartig weniger neue Beiträge und erweiterten bestehende Texte viel seltener.

„Die Beteiligung von nicht blockierten Autoren ist durch die Blockade im Schnitt um 42,8 Prozent zurückgegangen“, stellen die Ökonomen fest. Der Grund: Die Mitarbeit bei Wikipedia verschaffe den einzelnen Autoren Befriedigung – die Forscher sprechen dabei von „sozialem Nutzen“. „Die schrumpfende Gruppengröße reduziert diesen Nutzen“, schreiben sie. Ein Indiz dafür: Gerade die Autoren, denen der soziale Aspekt von Wikipedia besonders wichtig war und die sich intensiv in den Diskussionsforen des Lexikons tummelten, schrieben mit Beginn der Sperre deutlich weniger. „Unsere Studie liefert empirische Belege dafür, dass soziale Effekte stärker sein können als die Neigung zum Trittbrettfahrertum“, lautet das Fazit. Die Studie zeigt damit erneut: Volkswirte machen einen Fehler, wenn sie den Menschen zum reinen Egoisten erklären – dann können sie viele Phänomene des wahren Lebens nicht richtig erklären.

„Group Size and Incentives to Contribute: A Natural Experiment at Chinese Wikipedia“ , von Xiaoquan Zhan und Feng Zhu, erscheint in: American Economic Review

Quelle: Handelsblatt

Elinor Ostrom im Interview

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Die Wirtschaftssendung «ECO» hat die Nobelpreisträgerin exklusiv in Frankfurt getroffen. Elinor Ostrom hielt einen Gastvortrag an der Frankfurt School of Finance & Management.Im Interview erklärt sie, unter welchen Bedingungen gemeinschaftliche Regeln funktionieren und wann staatliche Regulierung notwendig ist. Englischsprachiges Original

Quelle: Schweizer Fernsehen