Samstag, 30. Oktober 2010

Neue Ökonomie der Natur

Mit diesem Erfolg hatten nur wenige gerechnet: Der Uno-Gipfel in Nagoya hat ein ehrgeiziges Artenschutzprogramm beschlossen, die Entwicklungsländer gestärkt. Die Naturschützer schaffen so den Sprung aus der Nische - und beanspruchen zu Recht, die Regeln der Wirtschaft umzuschreiben. Ein Kommentar von Spiegel Online.

Der Naturschutzgipfel von Nagoya hat eine Botschaft, die nicht nur Vogelfreunde und Waldwanderer betrifft - sondern vor allem alle anderen Menschen. Gerade wer in einer Großstadt lebt, bekommt von dieser Zusammenkunft der Vereinten Nationen eine Nachricht übermittelt: Unser Leben hängt existentiell von der Vielfalt der Natur ab. Wir werden für das, was wir bisher kostenlos bekommen, künftig zahlen müssen, wenn wir nicht die Grundlage dieses Lebens verlieren wollen.

Wer morgens im Herzen von Berlin, München oder Hamburg in sein Brötchen beißt, ist mit dem Acker verbunden, von dem es kommt. Doch wie lange sind die Böden noch fruchtbar? Wer die Zeitung aufschlägt, tritt mit dem Wald in Verbindung, dem das Papier entstammt. Doch gibt es auch in Zukunft noch ausreichend Wälder? Wer einen Kaffee trinkt, der verschafft sich einen Stimulus aus subtropischen Berggebieten. Was aber passiert mit dem Regenwald um die Plantage herum, ohne den die Kaffeesträucher weniger fruchtbar wären?

Die Liste der Ziele, die auf dem Gipfel in Japan verabschiedet wurden, ist lang und erstaunlich: Bis 2020 soll die Überfischung gestoppt, die Landwirtschaft nachhaltig und das Aussterben von Arten gestoppt sein. Sind das naive Wünsche von Tagträumern? Angesichts des Versäumnisses, die für 2010 gesteckten Uno-Ziele zu erreichen, mag man sich fragen, wie aussagekräftig solche Verlautbarungen überhaupt sind. Doch das kann nur bedeuten, die Rolle der Uno-Umweltschützer in der Weltpolitik zu stärken und das Umweltprogramm der Vereinten Nationen in den Rang einer echten Uno-Organisation zu erheben. Beim Welthandel mit der WTO ist das längst der Fall.

Wir haben uns daran gewöhnt, Äcker erodieren zu lassen, Speiseöle von tropischen Rodungsflächen zu beziehen, Fische aus illegalen Quellen zu essen. Alles soll möglichst billig sein. Zugleich erwarten wir von den ärmeren Menschen in Entwicklungsländern, dass sie nicht so viele Ressourcen verbrauchen wie wir, weil das der Planet nicht verkraften würde. Nun weist der Gipfel von Nagoya einen Weg, wie es anders laufen kann. Bei Uno-Gipfeln ist grundsätzlich Skepsis angebracht, wie viel sie von dem einlösen, was Satz für Satz erkämpft wurde, sobald die Unterhändler in ihre Flugzeuge nach Hause gestiegen sind.

Doch zum Erfolg von Nagoya gehört auch, dass sich dort Manager von vielen etablierten Firmen und Großkonzernen eingefunden haben, die offen sind für jenes neue Denken, das aus den Dokumenten spricht: Regenwälder, Korallenriffe, Ozeane, Savannen und lebenspralle Ackerböden sind demnach künftig die eigentlichen Zentralbanken unserer Wirtschaft. Dass wir ihnen frische Luft, Nahrung, Medikamente, Trinkwasser und vieles mehr entnehmen können, ist längst nicht mehr selbstverständlich.

Die Ökonomie der Natur rückt ins Zentrum. Denn unsere globalen Klimaanlagen, Wasserspender und Speisekammern funktionieren nur dauerhaft, wenn ihre angestammte Vielfalt an Lebewesen gedeihen kann. Und das geht nur, wenn die Menschen, die in ihrer Nähe leben, sich von etwas anderem ernähren können als von Zerstörung und Raubbau. Die ökonomischen Spielregeln von heute machen es lukrativ, den Planeten auszubeuten. Die hehren Ziele, die der Naturschutzgipfel von Nagoya setzt, sind ein Anfang, diese Spielregeln umzuschreiben.

Dazu gehört es vor allem, dass jene Menschen angemessen bezahlt werden müssen, die tragfähig wirtschaften statt nur kurzfristig, die etwa als Bauern in Deutschland Moorböden erhalten oder als Kaffeeunternehmer in Äthiopien dafür sorgen, dass der benachbarte Regenwald erhalten bleibt. Solche Menschen, nicht die ruchlosen Banker, haben Boni verdient. Das Geld der Gesellschaft ist bei ihnen deutlich besser angelegt, denn sie sind wirklich "systemrelevant". Diese Menschen dürften ruhig ein bisschen gieriger sein, denn ihre Arbeit trägt für alle Früchte, was sich von der Lehman-Bank oder Hypo Real Estate nicht sagen lässt.

Ohne Naturvielfalt ist alles nichts, lautet die Botschaft von Nagoya. Wirtschaftswachstum, das Naturvielfalt zerstört, mindert den Wohlstand, statt ihn zu mehren. Keiner hat das bei der Debatte der Staatschefs und Minister besser auf den Punkt gebracht als Andreas Carlgren, der konservative Umweltminister von Schweden: "Biodiversität ist die Grundlage unserer Wirtschaft und sie kann nicht länger isoliert vom Rest der Ökonomie gesehen werden", sagte er, "Ökonomie und Ökologie sind zwei Seiten derselben Medaille."

Aber soll uns schon wieder mehr Geld aus der Tasche gezogen werden? Das fragt mancher, wenn er hört, dass größere Summen von Nord nach Süd fließen sollen, um Wälder und Korallenriffe zu schützen. Doch die Frage führt in die falsche Richtung. Allein in Deutschland gibt es jährlich Subventionen im Umfang von knapp 50 Milliarden Euro, die direkt der Umwelt schaden, vom verbilligten Agrardiesel bis zur Pendlerpauschale. Der Beschluss von Nagoya, solche Subventionen bis 2020 abzuschaffen, verspricht also primär eine enorme Entlastung der Steuerbürger.

Dagegen kommen die deutlich geringeren Summen, die in den Naturschutz fließen sollen, dem tieferen Wohlstand zugute: gesündere Lebensmittel, der Erhalt von genetischen Schatzkammern und stabile Umweltbedingungen sind Ziele, die unmittelbaren Nutzen entfalten und zukunftstaugliche Arbeitsplätze schaffen. Dass westliche Firmen künftig auch dafür bezahlen sollen, wenn sie die Naturschätze von Entwicklungsländern für ihre Produkte nutzen, ist nur folgerichtig. Bisher ist es für Tropenländer am lukrativsten, ihre Wälder zu verhökern, sie für Holz zu roden und für Agrarflächen zu opfern, auf denen das Futter für europäische Rinder wächst. Zu lange galten die verbleibenden Regenwälder als kostenlose Quelle von Medikamenten oder Kosmetika. Durch den Nagoya-Gipfel bekommen die letzten Wildnisgebiete nun einen ökonomischen Wert zugewiesen, der es attraktiver macht, sie zu erhalten. Wenn Entwicklungsländer an noch unbekannten Naturstoffen langfristig mitverdienen, werden sie es sich vielleicht zweimal überlegen, den Wald für eine Einmalzahlung abzuholzen.

Solche Zahlungen dienen also nicht der Zerstörung, sondern der dauerhaften Nutzung von Naturschätzen. Die Erwartungen in Brasilien oder Indonesien, wie viel Geld sich auf diesem Weg verdienen lässt, mögen überzogen sein. Außerdem wird es mit Sicherheit bald die ersten Nachrichten geben, dass hier und da Schindluder mit solchen Zahlungen getrieben wird. Richtig bleibt das Prinzip allemal. Wem solche Transfers zu teuer erscheinen, der sollte sich folgendes überlegen: Was würden wir sagen, wenn Chinesen oder Brasilianer durch den Harz oder den Bayerischen Wald streiften, um Pflanzen einzusammeln, mit denen sie später viel Geld verdienen? Sicher würden auch wir einen gerechten Anteil an den Einnahmen reklamieren.

Das Ziel, bis 2020 rund 17 Prozent der Landfläche unter Naturschutz zu stellen, bedeutet auch, dass der Mensch 83 Prozent für seine Zwecke beansprucht. Die 17 Prozent sind das globale Erholungsgebiet, ein Entwicklungsraum für die angestammte Natur des Planeten, die uns hervorgebracht hat. Ebenso entscheidend ist aber, was auf den 83 Prozent Menschen-Welt passiert. Ob es sich dort lohnt, langfristig schonend zu wirtschaften oder kurzfristig Raubbau zu begehen, ist die noch tiefere Frage für die Zukunft der Zivilisation.

Der Gipfel von Nagoya hat nicht nur eine zweite Blamage der Vereinten Nationen nach dem Desaster von Kopenhagen vermieden, sondern die Menschheit mit einer erstaunlichen Neuerung konfrontiert: Der Naturschutz bricht aus dem engen Karree der Reservate und des reinen Froschzählens aus. Er sucht den Weg ins Herz der globalen Ökonomie und will ihr neue Prinzipien verordnen. Das ist angesichts der Wucht, mit der wir Menschen die Erde verändern, überfällig - nicht zuletzt, damit es 2050 oder 2100 überhaupt noch Frösche zu zählen gibt und ihre Feuchtgebiete uns mit frischem Wasser versorgen können.

Quelle: Christian Schwägerl, Nagoya, Spiegel Online

Montag, 11. Oktober 2010

USA mit kurzem Gedächtnis

Haben die USA aus der Finanzkrise gelernt? Das Gegenteil ist wahr, sagt Filmemacher Charles Ferguson. Seine brillante Dokumentation "Inside Job" zeigt, wie Wall Street und Regierung schon wieder gemeinsame Sache machen. Das Fatale: Niemand protestiert dagegen, wie Spiegel Online berichtet.

Es ist eine fast intime Soiree. Gerade mal neun Zuschauer verlieren sich im Saal des Angelika Film Centers, eines Programmkinos im New Yorker Greenwich Village. Dabei ist der Film, der hier seine Publikumspremiere hat, wichtig, erschütternd und zutiefst empörend. Jeder Amerikaner, der wirklich wissen will, wer die Finanzkrise verschuldet hat (und zweifellos die nächste verschulden wird), sollte ihn sehen.

In "Inside Job", seiner brillant-beklemmenden Dokumentation über den globalen Crash, weist Charles Ferguson genau das Gegenteil nach: Diese Geschichte ist längst nicht zu Ende - und hat sogar bereits begonnen, sich zu wiederholen. Was soll's, sagt Scott Talbott, ein Top-Lobbyist der Bankenbranche, auf Nachfragen von Ferguson mit nonchalantem Schulterzucken: "Jeder macht mal Fehler."

Von wegen Fehler. "Diese Krise war kein Unfall", sagt Ferguson. Sondern ein weltweiter, wortwörtlicher Bankraub, der Billionenverluste verursachte und Abermillionen Menschen die Existenz kostete, von Chicago bis China - für den aber, wie "Inside Job" in kühler Wut erinnert, bis heute kein einziger Schuldiger strafrechtlich belangt wurde. Statt dessen ziehen die gleichen Leute wieder die Strippen, an der Wall Street wie in Washington, und kassieren neue Bonusprämien ab.

Man könnte meinen, es gäbe zu dem Thema nichts mehr zu sagen. Doch keiner fängt die Chuzpe der Täter so eiskalt ein, demaskiert die Verantwortlichen so höflich, leuchtet die moralischen Abgründe so grell aus wie Ferguson, ein Politologe mit Reportertalent. Anders als der Polemiker Michael Moore ("Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte"), der seine Thesen zurechtschneidet, oder Hollywood-Nörgler Oliver Stone ("Wall Street: Geld schläft nicht"), der sich in stilisierter Dramaturgie verliert, wahrt Ferguson den Blick fürs Wesentliche.

Seine 108-minütige Tour de Force durch das Labyrinth aus Deregulierung und Derivativen, Ratings und Ramschhypotheken, CDO und CDS führt einem die zynische Manipulation des Systems besser vor Augen als alle bisherigen Traktate. Eine ernüchternde Lehre, die gerade jetzt nötig scheint, da viele Amerikaner die wahren Hintergründe der Krise schon wieder verdrängt haben - und, so warnt Ferguson, fröhlich in den nächste Wahn schlittern.

In der Tat machen in Umfragen immer mehr US-Bürger ihren Präsidenten Barack Obama für die Rezession verantwortlich - obwohl der zu Beginn der Finanzkrise noch überhaupt nicht im Amt war. Den Republikanern dagegen, die viel Geld von der Wall Street erhalten und die an der fatalen Deregulierungspolitik festhalten, messen die Wähler in Finanzfragen neuerdings größere Kompetenz zu als den Demokraten. Bei den Kongresswahlen in drei Wochen könnten die Republikaner die Macht im Kongress zurückerobern.

Amerikas hat ein kurzes Gedächtnis. So lief Fergusons aufwendig produziertes, von Matt Damon erzähltes Lehrstück am Wochenende denn zunächst auch nur in zwei New Yorker Programmkinos an, denen schrittweise weitere, kleine Häuser folgen sollen. Gleichzeitig sind die Megaplexes von eskapistischer Massenware belegt, darunter einer auffallenden Anzahl von Horrorfilmen für das bevorstehende Halloweenfest.

Dabei ist "Inside Job" der ultimative Horrorfilm, voller gruseliger Schurken und tragischer Helden. Wie "Freitag der 13." beginnt auch diese Höllenfahrt in trügerischer Idylle - in diesem Fall in Island, dessen Finanzsystem Ende 2008 spektakulär kollabierte. Gier, Dummheit, Bankenzockerei: Die Ursachen klingen haarsträubend provinziell und so weit weg - bis der Zuschauer merkt, dass es die gleichen waren, die die USA ins Unheil rissen.

Die Schurken - Banker, Rating-Agenturchefs, Lobbyisten - sahnten ab und belohnten sich selbst mit Villen, Yachten, Privatjets, Strippern, Nutten und Koks, ohne je echte Konsequenzen fürchten zu müssen. Exzesse, die sich Ferguson anschaulich vom Wall-Street-Psychologen Jonathan Alpert und der VIP-Puffmutter Kristin Davis schildern lässt und mit dem Oldie "Takin' Care of Business" untermalt.

Politiker, Ökonomen und der langjährige Fed-Chef Alan Greenspan gaben dem abgekarteten Spiel Flankenschutz. Der Einzige, der die Halunken zur Rechenschaft zog, war der New Yorker Generalstaatsanwalt und kurzzeitige Gouverneur Eliot Spitzer. Als der selbst über einen Hurenskandal stürzte, knallten an der Wall Street - deren Sittenlosigkeit ungesühnt blieb - die Sektkorken, derweil Ms. Davis heute als Bannerträgerin der Anti-Prohibitionspartei für das Amt des Gouverneurs kandidiert.

Aus der Distanz sind die Mechanismen so vorhersehbar, dass es unfassbar ist, wie niemand etwas gemerkt haben will. Fast niemand: Ferguson lässt vor allem auch die wenigen Propheten zu Wort kommen, die das Chaos kommen sahen, doch verlacht wurden, Jahr für Jahr. 2005 warnte Raghuram Rajan, damals Chefökonom des Internationalen Währungsfonds (IWF), vor einem "globalen Meltdown". 2006 orakelte Wirtschaftsprofessor Nouriel Roubini: "Die Blase platzt." Und 2007 kritisierte der Finanzjournalist Allan Sloan die Tricks der Banken als "absolut wahnsinnig".

Doch selbst die "New York Times" tat Roubini als "Dr. Doom" ab, und Larry Summers, seinerzeit Präsident der Harvard University, verhöhnte Rajan als "Technikfeind". Kein Wunder: Als US-Finanzminister unter dem Demokraten Bill Clinton forcierte Summers die Deregulierung der Wall Street. Später wurde er durch lukrative Consulting-Jobs für selbige Branche, die er schützte, zum Multimillionär.

Summers Name taucht immer wieder auf in "Inside Job": Unter seiner Obhut hob die US-Regierung 1999 die Trennung zwischen Investment- und Geschäftsbanken auf, was deren Konsolidierung zu Molochen à la Citigroup erst ermöglichte. Er schaltete Brooksley Born aus, die als Chefin der Aufsichtsbehörde CFTC schon früh auf die Gefahr von Derivativen hinwies. Er steuerte den Commodity Futures Modernization Act, der 2000 jenen Finanzspekulationen freie Bahn gab, die acht Jahre später das ganze Kartenhaus zum Einsturz bringen würden.

Summers personifiziert, wie Ferguson aufzeigt, die Drehtür zwischen akademischer Welt, Wall Street und Politik, die auch nach der Krise weiter schnurrt. Obama, der im Wahlkampf noch eine "neue Kultur an der Wall Street" gefordert hatte, berief Summers 2009 zum Chef-Wirtschaftsberater - ausgerechnet diesen Mann, der einer der frühen Mitverursacher der Krise war. Ende des Jahres will Summers nun nach Harvard zurückkehren, um die nächste Generation von Wirtschaftsgurus auszubilden. Ferguson seufzt: "Nichts hat sich geändert."

Eine deprimierende Erkennntis. Die Lumpen kamen ungestraft davon, sackten sogar noch neunstellige "Abfindungen" ein. Allein Stan O'Neal, der als Vorstandsvorsitzender Merrill Lynch verheizte, kassierte 162 Millionen Dollar. Anschließend wechselte er ins Board des größten US-Aluminiumkonzerns Alcoa, dessen damaliger Vorstandschef die "strategische Vision" des Opportunisten lobte.

Andere sitzen ungestört auf ihrem Thron. Etwa Glenn Hubbard, der Wirtschaftsdekan der Columbia University, der George W. Bushs Steuergeschenke für die Millionärsklasse mitformulierte, nun die Obama-Regierung "berät" und sich von der Wall Street sponsern lässt. Ob das kein Interessenkonflikt sei, fragt Ferguson. Hubbard reagiert beleidigt ("Das bezweifle ich") und bricht das Interview ab.

Und so spekuliert sich eine konsolidierte Wall Street der nächsten Blase entgegen. Kein Krisenprotagonist wurde verurteilt, Obamas Finanzreform ist dank eines Lobbyistenheers auf Minimalmaß geschrumpft, Goldman Sachs kassiert mehr denn je, JP Morgan Chase ist die neue Citigroup.

Unterdessen hat die Armutsquote in den USA historische Rekorde erreicht. Die US-Wirtschaft verlor im September 95.000 Arbeitsplätze. Die Einkommensschere klafft so weit auseinander wie nie zuvor, Schul- und Fortbildung ist für immer mehr Amerikaner unerschwinglich.

"Eine Wall-Street-Regierung", urteilt Ferguson denn auch über Obamas Team. Interviewanfragen verweigerten sämtliche Berater des Präsidenten. Ebenso wie Notenbankchef Ben Bernanke. Der hat seit 2006 tatenlos mitangesehen, wie die Wirtschaft ungebremst in die Krise stürzte. Geschadet hat es ihm nicht: Seine Amtszeit ist gerade erst verlängert worden.

Quelle: Spiegel Online

Sonntag, 10. Oktober 2010

Bitte kein BIP

Die Wirtschaft boomt wieder - aber was heißt das eigentlich? Der wichtigste Indikator für Wohlstand ist nach traditioneller Lehre das Bruttoinlandsprodukt. Doch die Messzahl steht massiv in der Kritik, Ökonomen fordern ein radikal neues Wachstumskonzept. Eine Analyse von Spiegel Online.

Berlin - Wenn Christian Berg vom Club of Rome über wirtschaftliches Wachstum spricht, illustriert er das gern mit diesem Beispiel: Europäische Fangflotten fischen mit riesigen Netzen die Fischbestände vor Afrikas Küsten leer - ein hocheffizientes und profitables Geschäft. Im Ergebnis steigert der Dosenthunfisch aus dem Mittelmeer das Bruttoinlandsprodukt in der EU. Die Frage ist nur: zu welchem Preis?

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) gilt seit Jahrzehnten als der wichtigste Gradmesser für wirtschaftliche Leistung und Wohlstand. Es misst den Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die innerhalb einer bestimmten Periode in einer Volkswirtschaft hergestellt werden. Zweimal jährlich legt das Statistische Bundesamt Zahlen vor, Wirtschaftsinstitute überbieten sich ständig mit ihren Prognosen - und immer ist das BIP die wichtigste Grundlage.

Doch das Konzept des BIP gerät immer stärker in die Kritik. Messen Ökonomen weltweit gar eine völlig irrelevante Zahl? Tatsächlich sind die Statistiken zum BIP unzureichend, wie nicht nur das Fischerei-Beispiel zeigt:

* So steigert eine Krankenschwester das BIP, wenn sie Alte in der Geriatrie versorgt. Eine Tochter, die ihre Eltern pflegt, wird dagegen nicht erfasst.
* Die teure Beseitigung von Umweltschäden geht genauso in die Statistik ein wie der Bau von Niedrigenergiehäusern. Vereinfachend könnte man sagen: Je mehr Umweltschäden beseitigt werden müssen, desto höher ist das BIP.
* Abstrakte Größen wie Lebenszufriedenheit oder Gesundheit der Bevölkerung werden dagegen überhaupt nicht erfasst. Dabei sollte das Ziel jeder Gesellschaft ja gerade sein, das Wohlbefinden möglichst vieler Menschen so weit wie möglich zu erhöhen.

Unter Ökonomen wachsen deshalb die Zweifel: Ist die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung noch ausreichend, um den Wohlstand einer Nation zu beschreiben? Und welche Alternativen zum BIP bräuchte eine moderne Wirtschaftspolitik in hoch entwickelten Industriegesellschaften?

"Wir brauchen neue Messgrößen"

Um diese Fragen zu diskutieren, trafen sich in dieser Woche hochrangige Ökonomen und Wirtschaftsvertreter zu einem Kongress in Berlin. Ihr Fazit: Auf das BIP als Wachstumsindikator sollte man zwar nicht verzichten. "Aber das BIP ist nur die eine Seite", sagt der Münsteraner Ökonom Ulrich van Suntum. Es sei nie ein genereller Wohlstandsindikator gewesen - werde aber fälschlicherweise häufig als solcher verstanden. "Um Wohlstand sinnvoll zu bemessen, brauchen wir neben dem BIP noch andere, neue Messgrößen."

Das ginge zum Beispiel mit Sozialindikatoren, die objektiv messbar sind. Dazu gehört der Human Development Index, den die OECD seit 1990 erhebt. Neben dem BIP berücksichtigt er auch die Lebenserwartung bei Geburt, die Alphabetisierungs- und die Einschulungsrate. Wenn man diese Größen mit einbezieht, kommt man zu überraschenden Ergebnissen. So ist China gemessen am BIP zwar die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt nach den USA, im "Human Development Index" erreicht das Land aber nur Platz 92.

Eine andere Möglichkeit, wirtschaftlichen Wohlstand zu messen, wären subjektive Indikatoren. Diese lassen sich statistisch erheben, indem die Befragten ihre Lebenssituation selbst bewerten. Allerdings sehen das viele Experten skeptisch: Denn wie gewichtet man die Antworten, wenn man Bürger nach ihren Werten und Vorstellungen fragt? "Es gibt Grenzen in der subjektiven Erhebung, welche die amtliche Statistik nicht überschreiten kann", sagt denn auch Albert Braakmann vom Statistischen Bundesamt. Da hat man es beim BIP einfacher. Die Kennzahl ist international normiert, so dass man ganze Volkswirtschaften vergleichen kann. Bei Fragen zur Lebensqualität ist das weit schwieriger: Deutsche leben nun mal nicht so gerne neben einem Atomkraftwerk, Franzosen haben damit weniger Probleme.

"Unser Wachstum ist nicht nachhaltig"

Neu ist die Diskussion indes nicht. Seit der "Club of Rome" im Jahr 1972 seine Studie "Die Grenzen des Wachstums" veröffentlichte, warnen Ökonomen immer wieder: Heutiges Wirtschaftswachstum, das erkauft wird mit dem Verbrennen von Öl, der Ausbeutung unwiederbringlicher Ressourcen oder massiven Umweltschäden, geht zu Lasten der Zukunft. Daran hat sich auch im Jahr 2010 nichts geändert. "Unser heutiges Wachstum ist nicht nachhaltig", sagt Christian Berg.

Im Februar 2008 war es ausgerechnet der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy, der die Diskussion erneut belebte. Er äußerte seine "Unzufriedenheit mit der Statistik" und berief eine Arbeitsgruppe ein mit dem Ziel, die Messung wirtschaftlicher Leistung und gesellschaftlichen Forschritts von Grund auf zu überdenken. Chefs dieser Kommission waren die beiden Nobelpreisträger Joseph Stiglitz und Amartya Sen.

Eineinhalb Jahre später sorgten die Ökonomen mit ihrem fast 300 Seiten starken Bericht für Furore. Die radikale Forderung: Schnellstens sollte die Politik dafür Sorge tragen, das produktionsorientierte Messsystem zu ersetzen durch ein neues, dessen Mittelpunkt das Wohlbefinden aktueller und kommender Generationen ist.

Genau daran arbeiten gerade Deutschland und Frankreich. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und sein französisches Pendant, der Conseil d'analyse économique (CAE) sollen den Regierungen beider Länder im Dezember einen entsprechenden Bericht vorlegen. Das Ziel: Ein neuer Indikator, der das Wirtschaftswachstum auf einer weiter gefassten Grundlage misst als das BIP.

Quelle: Spiegel Online