Zufall oder nicht: Dieser Text entsteht am 15. Mai, an dem in Frankreich ein neuer
Staatspräsident sein Amt antritt. Ein in westlichen Demokratien zwar wiederholt
zu beobachtender Vorgang, dass der Vorgänger abgewählt wird und doch eher
ungewöhnlich. Unter anderem wohl dem Faktum geschuldet, dass Nicolas Sarkozy
die Interessen der Reichen vertrat, während sein Nachfolger François Hollande
verspricht, der wachsenden Ungleichheit entgegen zu wirken. Ein solches
Versprechen ist, zumindest in einigen Ländern Europas, also mehrheitsfähig – ob
es das auch hierzulande so wäre, muss vorderhand offen bleiben.
Wie sich Ungleichheit in einer Gesellschaft auswirkt, haben
der Ökonom Hans Kissling und der Soziologe Werner Obrecht in der
Wochenzeitschrift «Das Magazin» (TA-Beilage 19/2012 - online nicht frei einsehbar) beleuchtet. Ihr Befund ist
eindeutig und stützt sich auf Erkenntnisse einer bislang eher unbekannten
Wissenschaftsrichtung, der Sozialepidemiologie – will so viel heissen wie
Wissenschaft der Wechselwirkungen von Gesundheit und Gesellschaft. Der Befund
lautet: Bestehende oder wachsende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen in
einer Gesellschaft, sei diese als Nation oder Region gefasst, ist ungesund –
die Mitglieder dieser Gesellschaft fühlen sich mit anderen Worten weniger
gesund als jene in gleicheren Gesellschaften.
Empirische Erkenntnisse vielerlei Art stützen diese Aussage.
So gibt es etwa bei hoher Ungleichheit, wie sie in den USA zu beobachten ist,
wesentlich mehr Fettleibigkeit, eine deutlich höhere Säuglingssterblichkeit,
aber auch mehr Strafgefangene. Umgekehrt gelten die Verhältnisse in Japan oder
den nordeuropäischen Staaten als vergleichsweise ausgeglichen – und siehe da,
diese Länder schneiden in vielerlei gesundheitlichen sowie psychosozialen
Aspekten wie den erwähnten oder auch der Mordrate und im schulischen Verhalten
(Abbruch der Ausbildung) besser ab. Als Mass für die Ungleichheit gilt dabei
etwa das Verhältnis der Einkommen der reichsten 20 Prozent einer Bevölkerung zu
jenem der ärmsten 20 Prozent. Die Zahl erreicht in den USA eine satte Acht, in
Japan lediglich die Hälfte – und die Schweiz liegt dazwischen bei ungefähr
sechs.
Was ist zu tun? Die Autoren besagten Magazin-Artikels
erwähnen die Einkommensbesteuerung als bewährtes Mittel, Ungleichheiten in
einem gewissen Mass einzuebnen. Dabei ginge es in vielen Ländern Europas gar
nicht darum, eine grosse Umverteilung zu starten. Es gälte lediglich,
Steuerentlastungen für Reiche rückgängig zu machen, die in den vergangenen
Jahren weit herum erlassen wurden und die die Ungleichheit spürbar vergrösserten
(siehe etwa Sarkozy in Frankreich).
Der Reflex vieler Interessenvertreter der Ungleichheit,
solches Anliegen als «Neid-gesteuert» abzuqualifizieren, zielt dabei ins Leere.
Denn mehr Gleichheit würde gemäss den Erkenntnissen der Sozialepidemiologie weniger Gesundheitskosten nach sich
ziehen, damit mittelfristig die Steuerbelastung möglicherweise insgesamt
reduzieren, und käme sogar den Reichen zugute. Das Anliegen erhält in der
Schweiz politische Brisanz, weil die Jungsozialisten die Initiative 1:12
eingereicht haben und damit via Volksabstimmung die Einkommensungleichheit auf
erwähntes Verhältnis begrenzen wollen.
In einem Interview von TA-Online erläutert der Basler Soziologieprofessor
Ueli Mäder die Ursachen steigender Suizid-Raten in ganz Europa - Artikel hier.
© Solarmedia
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