Dienstag, 15. Mai 2012

Ungleichheit ist ungesund

Zufall oder nicht: Dieser Text entsteht am 15. Mai,  an dem in Frankreich ein neuer Staatspräsident sein Amt antritt. Ein in westlichen Demokratien zwar wiederholt zu beobachtender Vorgang, dass der Vorgänger abgewählt wird und doch eher ungewöhnlich. Unter anderem wohl dem Faktum geschuldet, dass Nicolas Sarkozy die Interessen der Reichen vertrat, während sein Nachfolger François Hollande verspricht, der wachsenden Ungleichheit entgegen zu wirken. Ein solches Versprechen ist, zumindest in einigen Ländern Europas, also mehrheitsfähig – ob es das auch hierzulande so wäre, muss vorderhand offen bleiben.

Wie sich Ungleichheit in einer Gesellschaft auswirkt, haben der Ökonom Hans Kissling und der Soziologe Werner Obrecht in der Wochenzeitschrift «Das Magazin» (TA-Beilage 19/2012 - online nicht frei einsehbar) beleuchtet. Ihr Befund ist eindeutig und stützt sich auf Erkenntnisse einer bislang eher unbekannten Wissenschaftsrichtung, der Sozialepidemiologie – will so viel heissen wie Wissenschaft der Wechselwirkungen von Gesundheit und Gesellschaft. Der Befund lautet: Bestehende oder wachsende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen in einer Gesellschaft, sei diese als Nation oder Region gefasst, ist ungesund – die Mitglieder dieser Gesellschaft fühlen sich mit anderen Worten weniger gesund als jene in gleicheren Gesellschaften.

Empirische Erkenntnisse vielerlei Art stützen diese Aussage. So gibt es etwa bei hoher Ungleichheit, wie sie in den USA zu beobachten ist, wesentlich mehr Fettleibigkeit, eine deutlich höhere Säuglingssterblichkeit, aber auch mehr Strafgefangene. Umgekehrt gelten die Verhältnisse in Japan oder den nordeuropäischen Staaten als vergleichsweise ausgeglichen – und siehe da, diese Länder schneiden in vielerlei gesundheitlichen sowie psychosozialen Aspekten wie den erwähnten oder auch der Mordrate und im schulischen Verhalten (Abbruch der Ausbildung) besser ab.  Als Mass für die Ungleichheit gilt dabei etwa das Verhältnis der Einkommen der reichsten 20 Prozent einer Bevölkerung zu jenem der ärmsten 20 Prozent. Die Zahl erreicht in den USA eine satte Acht, in Japan lediglich die Hälfte – und die Schweiz liegt dazwischen bei ungefähr sechs.

Was ist zu tun? Die Autoren besagten Magazin-Artikels erwähnen die Einkommensbesteuerung als bewährtes Mittel, Ungleichheiten in einem gewissen Mass einzuebnen. Dabei ginge es in vielen Ländern Europas gar nicht darum, eine grosse Umverteilung zu starten. Es gälte lediglich, Steuerentlastungen für Reiche rückgängig zu machen, die in den vergangenen Jahren weit herum erlassen wurden und die die Ungleichheit spürbar vergrösserten (siehe etwa Sarkozy in Frankreich).

Der Reflex vieler Interessenvertreter der Ungleichheit, solches Anliegen als «Neid-gesteuert» abzuqualifizieren, zielt dabei ins Leere. Denn mehr Gleichheit würde gemäss den Erkenntnissen der Sozialepidemiologie  weniger Gesundheitskosten nach sich ziehen, damit mittelfristig die Steuerbelastung möglicherweise insgesamt reduzieren, und käme sogar den Reichen zugute. Das Anliegen erhält in der Schweiz politische Brisanz, weil die Jungsozialisten die Initiative 1:12 eingereicht haben und damit via Volksabstimmung die Einkommensungleichheit auf erwähntes Verhältnis begrenzen wollen.

In einem Interview von TA-Online erläutert der Basler Soziologieprofessor Ueli Mäder die Ursachen steigender Suizid-Raten in ganz Europa - Artikel hier.

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