Dienstag, 23. Februar 2010

Grundeinkommen für Alle

Hartz IV, Bafög, Wohn- und Kindergeld - der Sozialstaat hat sich völlig verzettelt. Nötig ist jetzt eine radikale Reform der Sicherungssysteme: Deutschland braucht ein Grundeinkommen für alle, ohne jede Bedingung. So der Kommentar von Thomas Straubhaar ist Professor für Volkswirtschaft an der Universität Hamburg und Leiter des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI). Die Schweiz ebenso, möchte man anfügen.

FDP-Chef Guido Westerwelle hat eine Hartz-IV-Debatte angestoßen, nun diskutiert Deutschland über den Sozialstaat im Allgemeinen. Dies ist sicher richtig, solange man ernsthaft bleibt. Falsch aber ist es, aus dem Fehlverhalten einzelner Menschen die Politik fürs Ganze abzuleiten. Zweifelsfrei gibt es jene, die den Sozialstaat missbrauchen. Ebenso ohne Zweifel gibt es aber auch Obdachlose, die erfrieren, und Familien, die bittere Not leiden. Auch in Deutschland.

Beide Erscheinungen - Missbrauch wie extreme Armut - sind aber nicht charakteristisch für die Gesamtheit der Gesellschaft. Fakt ist, dass die meisten Hartz-IV-Empfänger arbeiten würden, wenn sie einen Job fänden. Allerdings zeigt eine internationale Vergleichsstudie der OECD, dass in Deutschland die Anreize für Erwerbslose gering sind, sich eine Stelle zu suchen. Die Differenz zwischen einem Leben auf Kosten des Sozialstaats und einem Einkommen durch Arbeit ist ganz offensichtlich zu gering. Gerade für wenig qualifizierte (Langzeit-) Arbeitslose macht dies den Weg in die Erwerbstätigkeit wenig attraktiv.

Fakt ist aber auch, dass absolute Armut in Deutschland kein Massenphänomen ist. Im Gegenteil: Deutschland steht im internationalen Vergleich gut da. Das Armutsrisiko ist hierzulande geringer als im EU-Durchschnitt. Es ist fast so niedrig wie in den Vorzeigeländern Niederlande, Schweden und Dänemark. An diesem positiven empirischen Beleg ändert auch nichts, dass die Schere zwischen Arm und Reich auseinandergeht. Denn dies hat wenig mit dem Sozialstaat zu tun, dafür aber viel mit dem Bildungssystem, den Aufstiegsmöglichkeiten der Erwerbstätigen und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Die Politik muss das Ganze im Auge haben und nicht den Einzelfall, der womöglich als ungerecht empfunden wird. Es ist die große Schwäche der deutschen Sozialpolitik, gerade im Vergleich zu den USA, dass sie zu stark am Einzelfall orientiert ist. Auch in den USA werden schreckliche Schicksale medial zu Sensationsereignissen aufgebauscht. Daraus werden aber keine sozialpolitischen Forderungen abgeleitet. In Deutschland hingegen dient der Einzelfall viel zu oft dazu, konkrete Politik zu begründen.

Gute Politik sieht anders aus. Sie muss so gestaltet sein, dass schreckliche Einzelfälle so unwahrscheinlich werden wie möglich. Gleichzeitig sollte die Masse der Menschen bessere Chancen erhalten, ihre eigenen Lebenspläne in Sicherheit und Würde zu verwirklichen. Wer die Sozialpolitik in Deutschland deblockieren will, darf nicht an einzelnen Schrauben eines morschen Sicherungssystems drehen. Korrekturen innerhalb des Systems rufen andernorts neue Probleme hervor. So verdrängen öffentlich finanzierte Jobs zunehmend reguläre Beschäftigung. Hinzu kommt, dass der Sozialstaat an seine finanzielle Belastungsgrenze kommt. Viele Erwerbstätige, die heute Renten oberhalb der Mindestsicherung finanzieren, werden später selbst nur noch eine Mindestrente erhalten. Generationengerechtigkeit und der Grundsatz "Alterslohn für Lebensleistung" sind so nicht mehr gegeben.

Nötig ist deshalb eine ganzheitliche Rundumerneuerung der sozialen Sicherung. Deutschland braucht einen Systemwechsel hin zu einer steuerfinanzierten Grundsicherung für alle, hin zu einem bedingungslosen Grundeinkommen. Ein bedingungslos gewährtes Grundeinkommen erfordert eine grundlegende Steuerreform. Es geht darum, die komplexe und wenig effiziente deutsche Umverteilungsmaschinerie zu vereinfachen und zu verbessern. Das undurchschaubare Geflecht von personenbezogenen Steuern, Abgaben und Transfers sollte zu einem einzigen universalen Steuer-Transfer-Instrument zusammengezogen werden.

Die Idee ist folgende: Der Staat gewährleistet allen Bürgern vom Säugling bis zum Greis lebenslang ein existenzsicherndes monatliches Einkommen. Das Grundeinkommen wird bedingungslos und damit ohne bürokratischen Aufwand ausbezahlt. Alle erhalten das Grundeinkommen, unabhängig, ob jung oder alt, beschäftigt oder arbeitslos, verheiratet oder Single. Das Grundeinkommen bleibt steuerfrei. Auf der anderen Seite werden alle Einkünfte aus Arbeit, Zinsen und Dividenden, Miete und Pacht vom ersten bis zum letzten Euro an der Quelle erfasst und mit einem einheitlichen und gleich bleibenden Steuersatz belastet.

Die meisten der heutigen Sozialtransfers könnten durch das Grundeinkommen ersetzt werden. Statt all der vielen einzelnen Sozialleistungen wie Grundrente, Sozialhilfe, Arbeitslosengeld II (Hartz IV), Bafög, Wohn- und Kindergeld sollte es nur noch das Grundeinkommen geben. Auch Gutverdiener kommen in den Genuss staatlicher Unterstützungg. Ein immer wieder erhobener Einwand gegen das Grundeinkommen ist, dass alle einen Finanztransfer erhalten - auch jene, die nicht bedürftig sind. Auf den ersten Blick scheint es in der Tat merkwürdig, wenn Gutverdiener und Vermögende in den Genuss staatlicher Unterstützung kommen.

Dieses Argument lässt sich leicht entkräften. Zwar bekommen auch Reiche das Grundeinkommen. Sie "finanzieren" diesen Transfer aber auch - durch die Bruttobesteuerung ihrer Einkommen. Netto bleiben sie damit Steuerzahler. Anders formuliert: Auch mit dem Grundeinkommen wird die Masse der Deutschen weiterhin Steuern zahlen. Das Grundeinkommen ist nichts anderes als ein Steuerfreibetrag in Höhe des Existenzminimums - so wie er bereits heute in Deutschland allen gewährt werden muss. Hier liegt auch die Rechtfertigung für die Bedingungslosigkeit: Eine aufgeklärte Gesellschaft mit christlichen Werten wird zu Recht niemals zulassen, dass Menschen ohne Nahrung und Kleider, obdach- und würdelos dahinvegetieren. Sie wird in jedem Fall einen Absturz ins Bodenlose zu verhindern suchen und ein Auffangnetz auslegen. Das bedingungslos gewährte Grundeinkommen macht hier nur explizit, was implizit ohnehin besteht.

Klar ist auch: Der ökonomische Sinn der Grundeinkommensidee steht und fällt mit der Höhe des Transfers. Wie soll das Existenzminimum bemessen sein, das der Staat bedingungslos für alle sichert? Im Endeffekt ist dies eine politische Entscheidung, für die ein äußerst einfacher ökonomischer Zusammenhang gilt: Ein hohes Grundeinkommen erfordert hohe Steuersätze, ein niedriges Grundeinkommen ermöglicht niedrige Steuersätze. Hohes Grundeinkommen und hohe Steuersätze verringern den Anreiz zu arbeiten, niedriges Grundeinkommen und niedrige Steuersätze verstärken den Anreiz zu arbeiten. Je höher der Anreiz zu arbeiten ist, desto einfacher wird das Grundeinkommen zu finanzieren sein. Je geringer die Arbeitsanreize sind, desto weniger wird das Grundeinkommen finanzierbar sein.

Natürlich wird ein bedingungsloses Grundeinkommen nicht aus der Realität ein Paradies und aus Egoisten Gutmenschen machen. Es wird weiterhin Menschen geben, die auch dieses System hintergehen, missbrauchen und zu ihren eigenen Gunsten ausnutzen. Aber darum geht es nicht. Es geht nicht darum, wegen ärgerlicher Ausnahmen Politik für Einzelfälle zu machen. Es geht um die Suche nach einer neuen Sozialpolitik, die gesamtheitliche Lösungen für alle ermöglicht.

Quelle: Spiegel Online

Montag, 1. Februar 2010

De Wecks neues Gleichgewicht

Der Kapitalismus brauche eine Gegenkraft in Gestalt eines starken Staats, sagt Buchautor und Journalist Roger de Weck im Interview des Nachhaltigkeitsportals. Dieser Staat müsse eine vernünftige Marktordnung durchsetzen, denn letztlich seien es die natürlichen Ressourcen, die uns allen Grenzen setzten.

Urs Fitze (Nachhaltigkeitsportal): Das Ende des Kommunismus vor zwei Jahrzehnten wurde als endgültiger Sieg des Kapitalismus gefeiert. Jetzt stecken wir in der Krise. Was ist schief gelaufen?

Roger de Weck: Sein Triumph ist dem Kapitalismus schlecht bekommen. Er baut auf den Gedanken des Wettbewerbs, der die Welt voranbringe, aber er selbst hat keinen Wettbewerber mehr. Die Oberschicht muss nicht länger fürchten, dass unzufriedene Bürger „zu den Kommunisten überlaufen“. So fehlt der Antrieb, für eine gleichgewichtige Gesellschaft zu sorgen. Die Folge ist, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich verbreitert. Vor 1989 war es undenkbar, einen Arbeitnehmer zwei Jahre vor seiner Pensionierung zu entlassen – auch wenn es die Gesetze zuliessen. Heute sind solche Kündigungen üblich. Überdies hat die Globalisierung den Wettbewerb verhärtet, er wurde rücksichtslos.
Urs Fitze:Wirtschaftsführer und Politiker führen gern ins Feld, die rücksichtslose Globalisierung zwinge sie zur Anpassung. Was halten Sie davon?
Roger de Weck: Die Globalisierung ist kein Naturereignis. Sie ist von Menschen gemacht. Am Anfang stand die Liberalisierung des Kapitalverkehrs. Seither fliesst Geld ungehindert dorthin, wo am meisten Gewinn winkt. Viel weniger mobil sind die Arbeitskräfte. Das steigert massiv die Macht der Kapitalgeber gegenüber den Arbeitnehmern. Und weil das Kapital auch dorthin schnellt, wo es am wenigsten besteuert wird, stehen die Staaten unter Zugzwang, die Steuern auf das Kapital zu minimieren. Das ist eine weitere Privilegierung des Kapitals. Gegen die Globalisierung habe ich nichts, aber sie sollte bewusst gestaltet werden.

Man hat das meiste, was Roger de Weck in seinem Buch vorträgt, schon gelesen. Aber es trifft den Puls einer Gesellschaft im Wandel. De Wecks Liberalismus ist ein Plädoyer für einen Kapitalismus, der sich am Gemeinwohl orientiert.

Roger de Weck. Nach der Krise. Gibt es einen anderen Kapitalismus? Verlag Nagel & Kimche. 17.90


Urs Fitze:Hat der Kapitalismus in den vergangenen 20 Jahren sein wahres Gesicht gezeigt?
Roger de Weck: Er hat hundert Gesichter, die Spanne reicht vom diktatorischen Staatskapitalismus in China bis zum sozialen Kapitalismus Skandinaviens. Gemeinsam ist allen die Vorstellung, dass es vor allem auf den Gewinn ankomme. Dabei liegt die eigentliche Aufgabe der Unternehmen darin, Güter zu erzeugen und Leistungen zu erbringen. Wenn die Maximierung der Rendite wichtiger wird als alles andere, gerät der Kapitalismus aus dem Lot. Dieses System, das unser Leben prägt, entfaltet eine ungeheure Kraft. Es gilt, sie zu bändigen. Der Markt bedarf einer Marktordnung, er braucht Regeln und einen Staat, der diese Regeln durchzusetzen weiss. Wenn die New Yorker Wall Street und die Zürcher Bahnhofstrasse das Sagen haben, läuft es aus dem Ruder. Wir brauchen keine liebesdienerischen Regierungen. Wir brauchen Politiker, die den Wirtschaftsführern auch einmal sagen: So nicht! Es ist wirtschaftsfreundlich, die Wirtschaft vor ihrem Hang zu Exzessen zu bewahren.
Urs Fitze:Braucht der Kapitalismus wieder ein Gegengewicht, wie es der Kommunismus war?
Roger de Weck: Gottlob sind die stalinistischen Regimes untergegangen. Umso stärker brauchen wir Gegenkräfte innerhalb des Systems, um seine Auswüchse zu verhindern.
Urs Fitze:Sie schreiben in Ihrem Buch „Nach der Krise. Gibt es einen anderen Kapitalismus?“ von Gier als Triebfeder, die zur Krise geführt hat. Ist Gier nicht Teil des kapitalistischen Systems?
Roger de Weck: Der Kapitalismus lebt vom Eigennutz, Gier aber ist ungezügelter Eigennutz. Erst in den vergangenen drei Jahrzehnten ist der Eigennutz vollends zur Gier ausgeartet – weil er zur Ideologie erhoben worden war. Eigennütziges Verhalten diene von vornherein der Allgemeinheit, hiess es, der Markt sei eine moralische Anstalt. Das war eine Lebenslüge. Was gut war für die UBS-Manager, war schlecht für die Schweiz.
Urs Fitze:Der Kapitalismus habe die Züge einer Religion angenommen, argumentieren sie weiter. Ist eine Religion fähig zur Reform?

Roger de Weck: Luther, Calvin und Zwingli haben das Christentum reformiert. Auch der Kapitalismus kann sich erneuern. In den 1970er Jahren war er gleichgewichtiger als heute. Er kann es wieder werden. Ich bin zwar illusionslos, aber hoffnungsfroh. Sonst hätte ich das Buch nicht geschrieben.
Urs Fitze:Sie verlangen eine öko-soziale Marktwirtschaft. Was verstehen Sie darunter?
Roger de Weck: Eine Marktwirtschaft, in welcher der Staat nicht einfach Spital und Reparaturwerkstatt ist. Die Marktwirtschaft braucht einen starken Staat, der das Verursacherprinzip durchzusetzen vermag. Riesenkonzerne, die auf keinen Fall konkurs gehen dürfen, weil es die Volkswirtschaft zerrütten würde, geniessen faktisch eine Staatsgarantie. Das ist ein Wettbewerbsvorteil, dafür sollen sie eine angemessene Gebühr zahlen. Gehen sie irrwitzige Risiken ein, muss ihnen der Staat als „Versicherer“ prohibitiv hohe Gebühren abverlangen. Überdies muss die Staatengemeinschaft nach und nach dafür sorgen, dass die Preise die Kosten des Naturverbrauchs enthalten. Dann werden etwa die Frachtkosten steigen und wird der Unsinn aufhören, dass wir Lamm aus Neuseeland einführen, statt wunderbares Lammfleisch aus dem Unterengadin zu essen.
Urs Fitze:Sehen Sie Ansätze zu einer solchen Wende im Kapitalismus?
Roger de Weck: Durchaus. Es sind letztlich die natürlichen Ressourcen, die unser aller Tun und Lassen begrenzen. Werden sie knapp, lautet die Alternative: Kooperation oder Krieg. Ich baue darauf, dass die Staatenwelt sich für Erstere entscheidet und einen Weg findet, die noch vorhanden Ressourcen gerecht zu teilen.
Die Gruppe der zwanzig grössten Staaten – so zaghaft diese G-20 agieren mag – sucht nach gemeinsamen Lösungen. Im 19. Jahrhundert wäre es längst zum Aufprall der Nationen und zum Krieg gekommen.
Urs Fitze:Sehen Sie auch eine moralische Wende in den Köpfen: die Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann?
Roger de Weck: Ich glaube weniger an die Kraft der Moral als an straffe Regeln. Was wir brauchen, ist ein neues Gleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Staat und Wirtschaft, zwischen Eigennutz und Gemeinsinn, zwischen Nord und Süd.

Quelle: nachhaltigkeit.org - 1. Februar 2010