Sonntag, 10. Oktober 2010

Bitte kein BIP

Die Wirtschaft boomt wieder - aber was heißt das eigentlich? Der wichtigste Indikator für Wohlstand ist nach traditioneller Lehre das Bruttoinlandsprodukt. Doch die Messzahl steht massiv in der Kritik, Ökonomen fordern ein radikal neues Wachstumskonzept. Eine Analyse von Spiegel Online.

Berlin - Wenn Christian Berg vom Club of Rome über wirtschaftliches Wachstum spricht, illustriert er das gern mit diesem Beispiel: Europäische Fangflotten fischen mit riesigen Netzen die Fischbestände vor Afrikas Küsten leer - ein hocheffizientes und profitables Geschäft. Im Ergebnis steigert der Dosenthunfisch aus dem Mittelmeer das Bruttoinlandsprodukt in der EU. Die Frage ist nur: zu welchem Preis?

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) gilt seit Jahrzehnten als der wichtigste Gradmesser für wirtschaftliche Leistung und Wohlstand. Es misst den Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die innerhalb einer bestimmten Periode in einer Volkswirtschaft hergestellt werden. Zweimal jährlich legt das Statistische Bundesamt Zahlen vor, Wirtschaftsinstitute überbieten sich ständig mit ihren Prognosen - und immer ist das BIP die wichtigste Grundlage.

Doch das Konzept des BIP gerät immer stärker in die Kritik. Messen Ökonomen weltweit gar eine völlig irrelevante Zahl? Tatsächlich sind die Statistiken zum BIP unzureichend, wie nicht nur das Fischerei-Beispiel zeigt:

* So steigert eine Krankenschwester das BIP, wenn sie Alte in der Geriatrie versorgt. Eine Tochter, die ihre Eltern pflegt, wird dagegen nicht erfasst.
* Die teure Beseitigung von Umweltschäden geht genauso in die Statistik ein wie der Bau von Niedrigenergiehäusern. Vereinfachend könnte man sagen: Je mehr Umweltschäden beseitigt werden müssen, desto höher ist das BIP.
* Abstrakte Größen wie Lebenszufriedenheit oder Gesundheit der Bevölkerung werden dagegen überhaupt nicht erfasst. Dabei sollte das Ziel jeder Gesellschaft ja gerade sein, das Wohlbefinden möglichst vieler Menschen so weit wie möglich zu erhöhen.

Unter Ökonomen wachsen deshalb die Zweifel: Ist die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung noch ausreichend, um den Wohlstand einer Nation zu beschreiben? Und welche Alternativen zum BIP bräuchte eine moderne Wirtschaftspolitik in hoch entwickelten Industriegesellschaften?

"Wir brauchen neue Messgrößen"

Um diese Fragen zu diskutieren, trafen sich in dieser Woche hochrangige Ökonomen und Wirtschaftsvertreter zu einem Kongress in Berlin. Ihr Fazit: Auf das BIP als Wachstumsindikator sollte man zwar nicht verzichten. "Aber das BIP ist nur die eine Seite", sagt der Münsteraner Ökonom Ulrich van Suntum. Es sei nie ein genereller Wohlstandsindikator gewesen - werde aber fälschlicherweise häufig als solcher verstanden. "Um Wohlstand sinnvoll zu bemessen, brauchen wir neben dem BIP noch andere, neue Messgrößen."

Das ginge zum Beispiel mit Sozialindikatoren, die objektiv messbar sind. Dazu gehört der Human Development Index, den die OECD seit 1990 erhebt. Neben dem BIP berücksichtigt er auch die Lebenserwartung bei Geburt, die Alphabetisierungs- und die Einschulungsrate. Wenn man diese Größen mit einbezieht, kommt man zu überraschenden Ergebnissen. So ist China gemessen am BIP zwar die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt nach den USA, im "Human Development Index" erreicht das Land aber nur Platz 92.

Eine andere Möglichkeit, wirtschaftlichen Wohlstand zu messen, wären subjektive Indikatoren. Diese lassen sich statistisch erheben, indem die Befragten ihre Lebenssituation selbst bewerten. Allerdings sehen das viele Experten skeptisch: Denn wie gewichtet man die Antworten, wenn man Bürger nach ihren Werten und Vorstellungen fragt? "Es gibt Grenzen in der subjektiven Erhebung, welche die amtliche Statistik nicht überschreiten kann", sagt denn auch Albert Braakmann vom Statistischen Bundesamt. Da hat man es beim BIP einfacher. Die Kennzahl ist international normiert, so dass man ganze Volkswirtschaften vergleichen kann. Bei Fragen zur Lebensqualität ist das weit schwieriger: Deutsche leben nun mal nicht so gerne neben einem Atomkraftwerk, Franzosen haben damit weniger Probleme.

"Unser Wachstum ist nicht nachhaltig"

Neu ist die Diskussion indes nicht. Seit der "Club of Rome" im Jahr 1972 seine Studie "Die Grenzen des Wachstums" veröffentlichte, warnen Ökonomen immer wieder: Heutiges Wirtschaftswachstum, das erkauft wird mit dem Verbrennen von Öl, der Ausbeutung unwiederbringlicher Ressourcen oder massiven Umweltschäden, geht zu Lasten der Zukunft. Daran hat sich auch im Jahr 2010 nichts geändert. "Unser heutiges Wachstum ist nicht nachhaltig", sagt Christian Berg.

Im Februar 2008 war es ausgerechnet der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy, der die Diskussion erneut belebte. Er äußerte seine "Unzufriedenheit mit der Statistik" und berief eine Arbeitsgruppe ein mit dem Ziel, die Messung wirtschaftlicher Leistung und gesellschaftlichen Forschritts von Grund auf zu überdenken. Chefs dieser Kommission waren die beiden Nobelpreisträger Joseph Stiglitz und Amartya Sen.

Eineinhalb Jahre später sorgten die Ökonomen mit ihrem fast 300 Seiten starken Bericht für Furore. Die radikale Forderung: Schnellstens sollte die Politik dafür Sorge tragen, das produktionsorientierte Messsystem zu ersetzen durch ein neues, dessen Mittelpunkt das Wohlbefinden aktueller und kommender Generationen ist.

Genau daran arbeiten gerade Deutschland und Frankreich. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und sein französisches Pendant, der Conseil d'analyse économique (CAE) sollen den Regierungen beider Länder im Dezember einen entsprechenden Bericht vorlegen. Das Ziel: Ein neuer Indikator, der das Wirtschaftswachstum auf einer weiter gefassten Grundlage misst als das BIP.

Quelle: Spiegel Online

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